Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
Felsgiganten.
    Die Pferdegespanne befanden sich an der Spitze des Zuges, und so erkannte Saga das Ausmaß ihrer Schwierigkeiten erst, als der Wagenzug zum Stehen kam und sie mit zittrigen Knien ausstieg.
    Zahlreiche Mädchen scharten sich am Ufer des Flusses zu engen Gruppen zusammen, und ihr Wehklagen musste hinauf bis zu den eisigen Gipfeln ertönen. Saga hatte geahnt, dass sie nicht die Einzige war, der die Berge solche Furcht einjagten, aber sie hatte das Ausmaß der Panik unterschätzt, das sich jetzt offenbarte.
    Viele hatten sich in ihrer Angst in gemeinsame Gebete geflüchtet, andere sangen Lobpreisungen, aber die meisten jener jungen Frauen, denen die Furcht vor den Bergen tief in den Knochen saß, kauerten reglos oder mit schaukelnden Oberkörpern im Gras und starrten apathisch ins Leere. Zwanzig oder dreißig hatten sich, einem alten Aberglauben entsprechend, die Augen mit Stofffetzen verbunden, damit der Anblick der Berge sie nicht in den Wahnsinn trieb. Manche Mädchen, denen das Gebirge vertrauter war, weil sie sich dem Heer erst während der letzten Tage angeschlossen hatten, versuchten ihre Gefährtinnen zu beruhigen, andere fluchten und schimpften, weil sie kein Verständnis hatten für die unheilvolle Wirkung dieser Landschaft auf jene, die nie zuvor etwas Derartiges gesehen hatten. Die Söldner schwärmten beritten oder zu Fuß um die verängstigten Mädchengruppen, manche schrien Befehle und barsche Verwünschungen, andere sahen sich hilflos nach Zinder um, damit er ihnen sagte, was zu tun sei. Die Männer waren überfordert mit der Aufgabe, einen Zug von über vierhundert jungen Frauen zusammenzuhalten.
    »Saga!« Violantes Stimme ließ sie herumwirbeln. Die Gräfin stand hinter ihr, in einen dunklen Wollmantel gehüllt, dessen Schlichtheit ihr viel von ihrer hochherr schaftlichen Erscheinung raubte. Ihr Haar war längst nicht mehr so kunstvoll hochgesteckt wie zu Beginn der Reise, und dunkle Ringe unter ihren Augen verrieten, dass die Sorge um die Überquerung des Gebirges sie um den Schlaf brachte. »Saga, du musst zu ihnen sprechen. Irgendwer muss sie beruhigen. Dir werden sie gehorchen.«
    »Ich …«, begann Saga, aber nur ein Krächzen kam über ihre Lippen. Sie presste rasch die Lippen aufeinander, atmete tief durch und stützte sich mit einer Hand am Wagen ab. Im Hintergrund neigten sich die Berggipfel einander zu und flüsterten sich windumtoste Rätsel zu.
    Violantes Augen weiteten sich, als sie begriff, dass es Saga ebenso elend erging wie vielen Mädchen des Trosses. Sie fluchte zwischen zusammengebissenen Zähnen, hielt Ausschau nach Zinder, fand ihn nicht und wandte sich abermals Saga zu.
    »Du musst dich jetzt zusammenreißen. Ich weiß, wie es ist, wenn man diese Berge zum ersten Mal sieht. Aber es sind nicht die Berge allein.«
    »Wie meint Ihr das?«, brachte Saga stockend hervor.
    Violante zögerte widerwillig, dann drehte sie sich um und wies mit ausgestrecktem Arm am Rhein entlang nach Süden, dorthin, wo der weitere Weg tiefer in das Gebirge schnitt. »Kannst du das Dorf dort sehen?«
    Vor Sagas Augen schienen die Uferwiesen zu verschwimmen, überschattet von der Ungeheuerlichkeit der Berghänge, die sie rechts und links begrenzten. Nach einem Dutzend schneller Herzschläge erkannte sie schließlich die Zusammenballung niedriger Hütten und Häuser, die sich am Ufer des Rheins aneinander drängten. Unmittelbar hinter der Siedlung verengte sich das Tal zwischen steilen Felswänden und machte einen Knick, der es gänzlich im Labyrinth der Steinriesen verschwinden ließ.
    »Dies ist keine gute Gegend«, sagte Violante leise, die merklieh hin und her gerissen war zwischen ihrem Wunsch, Saga zu beruhigen, und der Notwendigkeit, ihr zu offenbaren, was vor ihnen lag. »Dort, wo der Fluss zwischen den Felswänden verschwindet, befindet sich eine tiefe Schlucht. Die Römer haben sie die Via Mala genannt. Den Bösen Weg.« Sie atmete tief durch, als spürte auch sie die schlechte Aura dieses Ortes. »Ich würde einen anderen Weg wählen, wenn es einen gäbe, der uns ebenso rasch auf die andere Seite des Gebirges und nach Mailand brächte. Ich habe die Via Mala schon einmal durchquert, vor vielen Jahren mit meiner Familie. Ich war noch sehr klein, damals, aber ich habe keine guten Erinnerungen daran. Trotzdem weiß ich, dass man heil bis ans andere Ende gelangen kann.«
    Sagas Gedanken kreisten wie ein Strudel um das, was Violante ihr da womöglich – oder auch nicht? – sagen

Weitere Kostenlose Bücher