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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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weiter oben über menschenleere Pässe fegten, verloren auf dem Weg in die Täler ihre Stimme und verwehten stumm in der Felsenödnis.
    Saga saß allein in der Krone einer Eiche und starrte in den schwarzen Abgrund. Der Baum erhob sich am Rand der senkrechten Felswand des Plateaus. Tannen und Fichten klammerten sich mit eisernem Überlebenswillen ans Gestein. Weiter unten lag der Eingang zur Schlucht in absoluter Finsternis. Was immer dahinter lauerte, ruhte in einem Grab aus Schatten und Stille.
    Es kam ihr vor, als wäre sie seit einer Ewigkeit nicht mehr geklettert oder über Abgründen balanciert. Ihr Leben als Gauklerin schien weit hinter ihr zu liegen, zusammen mit Faun, ihren Eltern und Schwestern, zusammen mit allen Skrupeln, die sie einmal gehabt hatte. Obwohl, nein, das war nicht die ganze Wahrheit: Sie hatte noch Skrupel, nur dass sie aufgehört hatten, ihr Handeln zu bestimmen. Ihr schlechtes Gewissen regte sich dann und wann ganz weit hinten in ihren Gedanken, gemeinsam mit einer tiefen Traurigkeit, die ihr beinahe noch mehr zu schaffen machte.
    Sie kauerte mit angezogenen Knien in einer mächtigen Astgabel, hatte einen Arm um den Stamm geschlungen und schabte mit der anderen Hand gedankenverloren an der Rinde. Hin und wieder löste sich ein Stück und segelte abwärts, hinab in den Schlund des Bösen Weges, wo die Finsternis es nach kurzer Zeit verschluckte.
    Vieles ging ihr durch den Kopf, aber sie schaffte es nicht, einen Gedanken festzuhalten und sich darauf zu konzentrieren. Stattdessen war da ein Strudel aus verwirrenden Gefühlen, Bildern und Sorgen. Sie hatte gehofft, hier oben ein wenig Ruhe zu finden, um über sich selbst und ihre Lage nachzudenken – etwas, das ihr seit einer halben Ewigkeit nicht mehr gelungen war. Doch auch jetzt war sie noch immer viel zu aufgewühlt.
    Die Schwärze der Via Mala zerrte an ihr, aber Saga widerstand der Versuchung, einfach loszulassen und sich aus der Baumkrone in die Tiefe zu stürzen. Während ihrer Seiltänze hatte sie schon über zahllosen gähnenden Schlünden gestanden, und die Verlockung des Abgrunds besaß längst keine Macht mehr über sie. Allerdings war noch etwas anders an diesem Ort. Es schien ihr, als ginge vom Bösen Weg ein ganz eigener, bedrohlicher Sog aus.
    Aber war es die Schlucht, die sie fürchtete, oder doch eher der Abgrund, der sich in ihr selbst auftat?
    Sie dachte an die vielen Mädchen und Frauen in den eng gedrängten Zelten auf der hügeligen Fläche außerhalb der Mauern von Burg Rialt. Viele Kreuzfahrerinnen hatten hier oben keinen Platz gefunden und ihre Zelte rechts und links des kurvenreichen Weges ins Tal aufgeschlagen. Zinder hatte seinen Männern verboten, eigene Unterkünfte zu errichten. Für sie alle herrschte höchste Alarmbereitschaft. Die Tatsache, dass sich das Lager der Frauen an den Serpentinen entlang fast bis ins Tal erstreckte, machte es beinahe unmöglich, sie alle gleichermaßen zu bewachen. Dass Saga unbemerkt durch die Wächterkette geschlüpft war, zeigte nur umso deutlicher, wie gefährlich die Lage war. Doch Achard schien Wort zu halten: Bislang hatte keiner seiner Männer der Versuchung nachgegeben, die ihnen die Nähe so vieler Mäd chen bot.
    Aus Zinders Andeutungen ahnte sie, wie schlecht es um viele der Frauen stand. Sie hatte von den Schmerzen gehört, die der endlose Fußmarsch vielen bereitete. Von geschwollenen, aufgeplatzten Füßen. Von gebrochenen und verstauchten Knöcheln. Von Geschwüren und Ausschlägen und einer Erschöpfung, die nur vom unermüdlichen Glauben an die Worte der Magdalena in Schranken gehalten wurde. Sie hätte sich ihnen häufiger zeigen sollen, nicht nur aus der Ferne. Aber sie fürchtete diese an onyme Masse von Mädchen und jungen Frauen mehr, als sie je für möglich gehalten hätte. Was, wenn sie durchschauten, was Saga in Wirklichkeit war? Wenn eine darunter war, die sie von irgendwoher wiedererkannte, so wie Zinder? Oder wenn abermals eine Massenhysterie ausbrach wie jene, die Gunthild das Leben gekostet hatte?
    Aber es waren nicht einmal nur solche konkreten Befürchtungen, die sie die Gesellschaft der Mädchen meiden ließ. Etwas viel Diffuseres bereitete ihr Übelkeit, wenn sie nur daran dachte, ihnen zu nahe zu kommen: die Erkenntnis, wie falsch das war, was sie tat. Wie gemein und arglistig und durch und durch schlecht. Sich das einzugestehen fiel schwer, und sie war mittlerweile recht gut darin, den Gedanken zu verdrängen.
    Und doch – wenn sie predigte,

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