Herrin der Lüge
Saga von der Wagentür aus bat: »Erzähl weiter.« Seine Geschichte mochte sie für eine Weile ablenken, und dafür war sie ihm dankbar.
Der Traumdeuter näherte sich ihr. Er roch ungewaschen und nach Alter. Aber sein Lächeln war listig und verlieh seinem beweglichen Auge ein jungenhaftes Blitzen.
»Ich bin auf die Höhle des Drachen gestoßen, und wann immer sich mir die Gelegenheit bietet, gehe ich dorthin. Seine Gebeine sind vor langer Zeit zu Stein geworden und müssen mit Hammer und Meißel aus dem Fels geschlagen werden.«
»Knochen aus Stein?«, fragte sie ungläubig.
»Gewiss doch. Mächtige, riesenhafte Knochen. Einmal fand ich einen Zahn so lang wie meine Hand.«
Wahrscheinlich waren die Knochen, die er gefunden hatte, nur halb so groß, wie er behauptete. Vermutlich gehörten sie einer Kuh, die irgendwann einmal in den Abgrund gestürzt war. Aber Elegeabal ließ keinen Zweifel an seiner Überzeugung, und das machte ihn zumindest amüsant.
Er legte den Kopf schräg. »Bist du die Magdalena?«
Sie stieß einen Seufzer aus. »Die bin ich.«
»Dann sag mir, Kind, träumst du manchmal?«
»Tun wir das nicht alle?«
»Welcher Art sind deine Träume?«
»Ich hab sie vergessen, sobald ich aufwache.«
Er streckte ihr den Arm entgegen, die offene Handfläche nach oben gerichtet. »Leg deine Hand in meine. Ich kann deine Träume lesen, wenn du magst.« Er deutete mit dem Stab auf ihre Stirn. »Sie sind alle noch dort oben drin, jeder einzelne. Träume vergehen nicht. Genau wie die Knochen des Drachen. Sie werden zu Stein und verkrusten mit den Jahren, und irgendwann muss man sie mit Hammer und Meißel aus ihrem Gefängnis befreien. Aber die Erde verschwendet keine ihrer Gaben, und die Träume, die sie uns schickt, sind für die Ewigkeit gemacht.«
Sie sah seine knöcherige Hand an, behielt ihre eigene aber bei sich.
»Du hast Angst«, sagte er.
»Lass mich in Ruhe«, verlangte sie unwirsch. Aber sie konnte nicht aufstehen, ohne ihn beiseite zu stoßen. Plötzlich scheute sie seine Berührung mehr als seine Worte.
Der Traumdeuter bewegte sich nicht von der Stelle. »Da ist etwas in dir. Und du weißt davon. Es hat eigene Träume. Falsche Träume. Lügenträume!«
Verunsichert suchte sie nach Worten. »Lügen nicht alle unsere Träume?«
Der Alte schüttelte den Kopf. »Die meisten verraten uns größere Wahrheit als unsere Augen und Ohren.« Er lächelte wieder. »Gib mir deine Hand.«
Sie ignorierte die Aufforderung. »Was für Träume hat ein Mann wie Achard?«
Elegeabal hob überrascht eine Augenbraue. »Träume von Macht. Von Reichtum. Aber es sind primitive Träume, lose gewebt wie ein altes Wams, das er sich schon viel zu oft übergestreift hat.«
»Und Jorinde?«
Ein trauriges Kopfschütteln war die einzige Antwort darauf. »Wirst du mir nun deine Hand geben?«
»Nein.«
»Ich könnte dir mehr über dich verraten, als du selbst weißt.«
»Vielleicht mehr, als ich wissen will.«
Er kicherte. »Wohl wahr.« Die fleckige Knochenhand sank zurück an seine Seite, wo sie schlaff herabhing, als wäre kein Leben mehr darin. »Heil dir, Magdalena. Und heil dem, der in dir wohnt.«
Elegeabal wandte sich ab und wanderte langsam zu einer der ausgekühlten Feuerstellen. Gedankenverloren stocherte er mit dem Stab in den Überresten, als lägen dort Antworten auf unausgesprochene Fragen.
»Kannst du die Träume des Drachen lesen?«, rief sie ihm hinterher. »Aus seinen Knochen?«
Der Alte zog den Stab aus der Feuerstelle und betrachtete das grau bestäubte Ende. »Alles Asche«, murmelte er. »Wohin man sieht, nur Asche.«
Maria und der Herzfresser
Der Bethanier folgte dem schreienden Mann ins Dickicht der Weidenbäume. Hinter ihnen schloss sich der Vorhang aus Peitschenästen. Das Kreischen des Mannes entfernte sich zwischen den Stämmen, aber er war nicht schnell genug. Der Bethanier würde ihn einholen. Seine Opfer waren niemals schnell genug.
Maria stand neben dem schwarzen Schlachtross und sah den beiden Gestalten nach, als der Weidenhain sie verschluckte. Sie bewegte sich nicht, genau wie der riesenhafte Pferdeleib neben ihr. Weder das Ross noch sie selbst waren festgebunden. Aber im Gegensatz zu dem Tier überlegte sie, ob dies womöglich die Gelegenheit war, dem furchtbaren Ritter zu entkommen.
Er hatte ihre Eltern getötet, um ihre Herzen zu essen. Das hatte er ihr gesagt, bei einer der wenigen Gelegenheiten, als er das Wort an sie gerichtet hatte. Das schenke ihm ewiges Leben,
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