Herrin der Lüge
in sicherer Entfernung und gut abgeschirmt durch Zinder und seine Männer – war da etwas in ihr, das es genoss. Außerdem, so redete sie sich ein, waren die Mädchen nicht längst von ihr abhängig? Wenn sie wirklich aufgäbe, sich klammheimlich davonmachte wie eine Diebin, würde dann nicht die ganze Unternehmung in Chaos versinken? Niemandem wäre damit gedient, am wenigsten jenen, die ohnehin das größte Leid zu ertragen hatten.
Ich habe keine Wahl, hämmerte sie sich ein.
Keine Wahl, bestätigte der Lügengeist, und sie war nur zu bereit, ihm zu glauben. Du tust das Richtige.
Blicklos starrte sie auf die Schlucht unter ihr. Kann ein Weg wirklich böse sein?, fragte sie sich. Oder waren es nur jene, die ihn gingen?
»Lasst mich mit Jorinde sprechen«, verlangte die Gräfin am Morgen vom Herrn der Burg Hoch Rialt. Sie hatten sich wieder im Saal des Wohnturms versammelt. Das schmutzige Geschirr stand noch immer am Tafelende, umschwärmt von fetten Fliegen. »Ich will hören, was sie zu sagen hat.«
»Das wird nicht nötig sein«, entgegnete Achard mit liebenswürdigem Lächeln. »Sie ist mit allem einverstanden.«
»Bevor ich meine Entscheidung treffe, wird sie es mir sagen müssen.«
Für einen Moment hatte Saga den Eindruck, dass Zinder Recht behielt: Achard spielte ihnen etwas vor. Die Maskerade des Toren zerfiel für einen Atemzug, und darunter starrte ihnen etwas Raubtierhaftes entgegen, das selbst Violante für einen Augenblick lähmte. Saga unterdrückte den Drang, einen Schritt zurückzuweichen. Dann aber bekam Achard von Rialt sich wieder unter Kontrolle. Seine Züge entspannten sich.
»Ganz wie Ihr wünscht«, sagte er mit betonter Ruhe. Er gab einer eingeschüchterten Zofe einen Wink, und wenig später hörten sie leise Schritte im Treppenhaus. Die Tür schwang auf, und herein trat Jorinde von Rialt, weiß gekleidet wie am Abend zuvor, aber mit einem breiten Ledergürtel um die kindliche Taille. Sie trug eine geschnürte Haube, unter der sie ihr Haar verbarg.
Ihr Gesicht war geschwollen und dunkel angelaufen, das eine Auge halb geschlossen.
Violante atmete scharf ein. Saga biss sich auf die Unterlippe. Zinder stieß einen Fluch aus.
»Jorinde, mein Engel«, rief Achard und breitete die Arme aus, »wie schön, dass du dich zu uns gesellst.«
Zinder verbeugte sich, und Saga tat es ihm nach. Jorinde öffnete den Mund und sagte etwas, das niemand verstand.
»Sprich lauter«, verlangte Achard.
»Ich grüße Euch«, kam es zaghaft über Jorindes aufgesprungene Lippen. Bei ihrer Statur hatte es wohl kaum mehr als einiger Ohrfeigen bedurft, um sie derart zuzurichten. Selbst gestern in der Dämmerung und weit entfernt auf der Balustrade hatte ihr etwas Kränkliches angehaftet.
»Wir danken für Eure Gastfreundschaft«, sagte Violante und verbeugte sich nun ebenfalls. »In unserem Gefolge befinden sich einige hervorragende Heilkundige, deren Künste Ihr gern in Anspruch nehmen könnt.«
»Wir haben selbst einen Heiler«, erwiderte Achard voller Ungeduld. »Jorinde, sag diesen braven Leuten, was du dir sehnlicher wünschst als alles andere.«
Jorindes Unterkiefer zitterte, aber sie hielt ihre Tränen im Zaum. »Ich wünsche mir … ich möchte Euch bitten, Euch auf Eurem Kreuzzug begleiten zu dürfen.«
»Ihr seid uns herzlich willkommen«, entgegnete die Gräfin. Ihr Gesicht war steinhart, wie aus Kalk gehauen. Sie wirkte zehn Jahre älter als noch vor wenigen Minuten. Erstaunlich, dachte Saga, dass das Schicksal der jungen Adeligen sie derart mitnahm. Ausgerechnet Violante. Es war fast, als erkannte sie in der jungen Frau etwas von sich selbst wieder.
»Dann wäre ja alles geklärt«, rief Achard und klatschte erfreut in die Hände. »Ihr könnt sofort aufbrechen. Meine Führer stehen bereit. Wenn Ihr wünscht, stelle ich Euch außerdem eine bewaffnete Eskorte zur Verfügung.«
»Nicht nötig«, knurrte Zinder, gereizt wie ein Kettenhund.
»Wie Ihr wollt«, gab Achard zurück, aber jetzt loderte gefährlicher Spott in seinen Augen. Zinder und er fochten ein stummes Duell miteinander, das erst unterbrochen wurde, als Jorinde mit leichtem Humpeln zwischen die beiden Männer trat, dabei aber nur Saga ansah.
»Du bist die Magdalena«, stellte sie leise fest. Ihre Stimme war so zart, dass Saga sie kaum verstand. »Du hörst ihre Stimme?«, fragte Jorinde behutsam. Von nahem sah sie noch jünger aus, kaum zwanzig.
»Ja.« Alle Blicke waren jetzt auf Saga gerichtet. Selbst Achard musterte sie
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