Herrin der Lüge
Stoffgiebel in Reih und Glied, durchzogen von schnurgeraden Wegen und breiten Straßen. An mehreren Stellen waren weite Plätze geschaffen worden, auf denen junge Frauen – keine älter als zwanzig, keine jünger als sechzehn – von gerüsteten Gestalten in die Kunst des Kampfes eingewiesen wurden. Saga hatte ein ungeordnetes Tohuwabohu erwartet, eine Vervielfachung des Tumults in den Straßen und des Elends ihres Begleitzuges durch das Gebirge. Doch was sie hier vorfand, war alles andere als ein Bild des Leids. Nicht einmal gelindes Durcheinander. Stattdessen herrschten in diesem Lager peinliche Ordnung und, im Rahmen der Möglichkeiten, sogar Sauberkeit. Hier und da saßen Frauen in Gruppen beieinander und nähten neue Zelte oder Kleidung für die Reise. Die allermeisten aber waren mit Waffenübungen beschäftigt, und das mit einer Verbissenheit, die Saga für einen kurzen Augenblick – und nur für diesen Augenblick – beinahe glauben machte, dass diese Armee aus Mädchen tatsächlich das Heilige Land von der Sarazenenplage befreien konnte. Ihr Herz machte einen Sprung, und ein unverhofftes Gefühl von Stärke, ja Erhabenheit überkam sie. Das hier waren ihre Kriegerinnen.
»Ist sie das?«, schnitt eine Stimme durch den Lärm. »Ist das die Magdalena?« Die Frau, die diese Worte zu ihr herüberschnauzte und sich dabei rücksichtslos durch die Soldateneskorte drängte, war größer als jede andere, die Saga je unter die Augen gekommen war. Tatsächlich war sie größer als die meisten Männer, die sie kannte. Ihre Schultern unter dem Kettenhemd und den eisernen Protektoren mussten enorme Ausmaße haben, um das Gewicht solchen Rüstzeugs tragen zu können. Das dunkle Haar hatte sie im Nacken zu einem strengen Knoten gebunden, und ihr Gesicht … ja, ihr Gesicht war bemerkenswert.
Ein schrundiges Narbennetz spannte sich über hervorstechende Wangenknochen, und ihre Nase sah aus, als sei einmal ein Stück von der Spitze abgeschlagen worden. Nur ihre Augen waren unversehrt und leuchteten vor Leben.
»Berengaria«, stellte sie sich vor, als sie sich zwischen Zinders und Sagas Rösser zwängte und kaum zu den beiden Reitern aufschauen musste.
Saga nickte ihr zu und hielt unauffällig Ausschau nach Violante.
»Ich habe hier das Kommando«, rief die riesige Frau so laut, als wäre sie noch immer einen Steinwurf entfernt.
»Nein«, bemerkte Zinder mit gefährlicher Ruhe, »du hattest das Kommando. Jetzt ist die Magdalena eingetroffen und dankt dir für deine Mühe, Normannenweib.«
Saga erwartete eine wutschnaubende Antwort, doch Berengaria warf dem Söldnerführer nur einen abschätzigen Blick zu. Sie wandte sich wieder an Saga. »Ich bin die zweite Befehlshaberin der erzbischöflichen Garde. Vor sechs Wochen wurde ich abgestellt, um die ersten Frauen, die hier in der Stadt eintrafen, im Umgang mit Waffen zu unterweisen.«
Saga konnte die Normannin nicht einschätzen. Erst nach einem Augenblick dämmerte ihr, was Berengaria gerade gesagt hatte. Zweite Befehlshaberin der erzbischöflichen Garde! Eine Frau, die die Soldaten eines Bischofs anführte? Saga hätte kein Wort davon geglaubt, hätte sich der lebende Beweis dafür nicht gerade auf recht eindrucksvolle Weise vor ihr aufgebaut.
»Ich werde den neuen Begleittrupp der Magdalena anführen.«
Zinder beugte sich im Sattel vor. Zwischen ihm und der Frau war mit einem Mal eine Anspannung, die fast greifbar war.
»Was soll das heißen?«, knurrte er. »Ich kümmere mich um den Schutz der Magdalena. Und dabei wird es auch bleiben.«
»Das hier hat nichts mit dir oder mit mir zu tun. Ihr seid … wie viele? Fünfzig Männer? Wie wollt ihr einen Zug von fünftausend Frauen beschützen?«
Ein eisiges Lächeln wehte über Zinders Miene. »Diese Sache hast nicht du zu entscheiden.«
Sie entfernte sich bereits. »Nicht ich«, erwiderte sie über die Schulter. »Sondern der Erzbischof. Sprich mit deiner Gräfin, sie weiß mehr darüber. Und du kannst mir glauben, sie war angemessen betrübt.«
Zinders Hand zuckte zum Griff seiner Waffe. Saga wurde bewusst, dass er das sagenumwobene Kettenschwert während der Reise kein einziges Mal blankgezogen hatte. Aber auch jetzt blieb die Klinge in ihrer Scheide. Zinders Wangenmuskeln mahlten in unverhohlenem Zorn.
Berengaria blieb ruhig. »Tu’s nicht«, sagte sie nur.
Zinder murmelte etwas, dann trat er seinem Pferd in die Flanken. Mit schrillem Wiehern sprengte es vorwärts, haarscharf vorbei an der Normannin und durch
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