Herrin der Lüge
Geistliche Platz genommen hatten. Im ganzen Saal mussten sich vierhundert oder fünfhundert Personen aufhalten, vorwiegend Männer. Schmiedeeiserne Kerzenleuchter hingen an schenkeldicken Ketten von der Decke, an den Wänden brannten Fackeln. Jagdhunde streiften frei umher und verschlangen, was man ihnen von den übervollen Tischen zuwarf. Der Erzbischof zog am heutigen Abend alle Register prahlerischer Völlerei.
Aribert della Torre saß an der Stirnseite der großen Tafel, hatte seinen üblichen Platz in der Mitte aber an den Gesandten des Papstes abgetreten. Der hohe Gast war ein rundlicher Mann mit schwarzem Haar, jünger als Saga erwartet hatte, der den Weinen und Schüsseln weit größere Aufmerksamkeit schenkte als den Gesprächen, die ihm von allen Seiten aufgedrängt wurden.
Saga wappnete sich beim Eintreten für das Kommende und wurde nicht enttäuscht. Erzbischof Aribert führte sie vor wie ein kostbares Spielzeug, hielt eine weitschweifige Rede über die Bedeutung der Unschuld und den sicheren Untergang des Sarazenenreiches, wenn es dem Abendland gelänge, ein solches Kontingent an Reinheit und gottesfürchtiger Entschlossenheit aufzubieten. Andere Redner schlossen sich an, und zuletzt durfte auch Gräfin Violante eine paar knappe Worte sprechen, ehe Aribert ihr unverhohlen signalisierte, sie möge zum Ende kommen.
Saga wartete währenddessen mit wachsender Unruhe darauf, dass der Gesandte ihr vor all diesen Menschen Fragen stellen oder sie zu einer Predigt auffordern würde – sie hatte eine vorbereitet, schon vor Tagen –, aber so weit kam es nicht. Der Botschafter des Heiligen Stuhls lauschte den meisten Dingen, die an diesem Abend gesagt wurden, hatte aber bereits merklich dem Wein zugesprochen und verlor bald das Interesse. Er betrachtete Saga eine Weile lang mit trunkener Ungeduld, flüsterte einigen seiner Lakaien etwas ins Ohr, erntete höfliches Gelächter und gab mit einem knappen Nicken seinen Segen, ehe er sich den neuen Krügen zuwandte, die Aribert just in jenem Augenblick auftafeln ließ. Saga sah verwundert zu Violante hinüber, die ihr mit einem unauffälligen Wink zu verstehen gab, sie möge sich wieder entfernen.
Sollte das alles gewesen sein? Es sah fast danach aus.
Saga drehte sich um und verließ mit gesenktem Haupt den Saal. Sie hatte nicht das Gefühl, dass irgendwer sie vermissen würde.
Am nächsten Morgen erfuhr sie, dass der Gesandte wieder auf dem Weg nach Rom war. Zuvor aber hatte er verkünden lassen, dass das Vorhaben die volle Unterstützung der Mutter Kirche genieße und man so schnell wie möglich mit allem Nötigen voranschreiten möge.
Dem Aufbruch des Heeres nach Venedig stand nichts mehr im Weg.
Wie sich herausstellte, hatte Papst Innozenz sehr wohl eine Bedingung gestellt. Eine Gruppe von fünfzig Geistlichen, die mit dem Gesandten aus Rom angereist war, musste in den Heerzug aufgenommen werden; sie sollten das Seelenheil der fünftausend Mädchen gewährleisten, ihnen die Beichte abnehmen, Messen lesen und geistigen Beistand leisten. Violante war nicht glücklieh darüber, doch Aribert hatte ihr noch in der Nacht deutlich gemacht, dass dem Wunsch des Heiligen Vaters uneingeschränkt entsprochen werden müsse, ganz gleich, ob es ihr nun gefiele oder nicht. Einmal mehr erhielt sie damit die Bestätigung, dass die Führung des Kreuzzuges nicht mehr in ihrer Hand lag.
Saga erlebte eine weitere Überraschung, als ihr bewusst wurde, dass die Truppe der Normannin keineswegs aus Gardesoldaten des Erzbischofs bestand. Zwar trugen die Bewaffneten, die den Zug nun zu mehreren Hundertschaften begleiten würden, Wappen und Farben von Ariberts privater Armee, doch gab es einen erstaunlichen Unterschied: Es handelte sich ausnahmslos um Frauen.
Keine von ihnen war jung genug, um aus den Reihen der Kreuzfahrerinnen zu stammen. Berengaria erklärte Saga, dass sie bereits vor Monaten im Auftrag des Erzbischofs damit begonnen hatte, Söldnerinnen nach Mailand einzuladen, um aus ihnen einen Wachtrupp zu schmieden. Ein Heerzug nur aus Frauen besagte die oberste Regel ihrer Unternehmung, und darauf basierte nicht nur die Unterstützung des Papstes, sondern – was viel wichtiger war – das Selbstverständnis der Kreuzfahrerinnen.
Saga mochte den Erzbischof nicht, hielt ihn für verlogen und verschwenderisch. Aber sie konnte nicht umhin, seiner Konsequenz Achtung zu zollen. Abgesehen von Zinder schien seine Strategie nur Gewinner hervorzubringen.
Berengaria erwies derweil
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