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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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eindrucksvoll ihre Fähigkeiten, als sie das gewaltige Heer binnen kürzester Zeit bereit für den Aufbruch machte. Unter ihrem Befehl rüsteten sich nicht weniger als viertausendachthundert Frauen, begleitet von fünfzig Priestern und vierhundert Kriegerinnen.
    Die Reise sollte von Venedig aus durch das adriatische Meer über Kreta, Rhodos und das christliche Zypern bis zu einer Hafenstadt der Kreuzfahrerkönigreiche führen. Akkon, Jaffa oder Tyrus kamen in Frage, aber noch wollte sich niemand auf ein endgültiges Ziel festlegen, wohl auch um Spionen keine Chance zu geben. Die berüchtigten Flotten afrikanischer Sklavenhändler waren nur eine der Gefahren, der sie sich aussetzten.
    Saga konnte kaum die Risiken abschätzen, die die Fahrt eines so riesenhaften Heeres über das Meer mit sich brachte. Irgendwann versuchte sie gar nicht mehr, das wahre Ausmaß des Ganzen zu erfassen, und auf wundersame Weise fühlte sie sich danach fast erleichtert. So vieles konnte passieren – und alles entzog sich ihrem Einfluss –, dass ihr Verstand sich weigerte, mehr Zeit als nötig mit unheilschweren Gedanken zu verschwenden.
    Sie ahnte nicht, dass die größte Gefahr nicht auf hoher See lauerte, sondern in Venedigs Hafengassen.

Lebende Legende
     
    Saga lehnte mit verschränkten Armen über den sonnenerhitzten Zinnen des Achterkastells. Der Aufbau im hinteren Teil des Schiffes ragte hoch über den steinernen Kai empor. Das Flaggschiff der Flotte war erst kürzlich fertig gestellt worden. Bei dem Gedanken, dass man der Galeere allen Ernstes den Namen Santa Magdalena gegeben hatte, schüttelte Saga auch noch am zweiten Tag ihres Aufenthalts in Venedig den Kopf. Zugleich fühlte sie sich geschmeichelt, eine Regung, die sie irritierte und über die sie am liebsten nicht nachdachte.
    Es gefällt dir, flüsterte es in ihr. Du sonnst dich in deiner Wichtigkeit, jetzt, wo du nichts weiter tun musst als dazustehen und den anderen bei der Arbeit zuzusehen.
    Der Gedanke war nicht von der Hand zu weisen. Nachdem sie den endlosen Fußmarsch über die Berge und die norditalienische Ebene hinter sich hatten, fiel es ihr leichter, sich mit ihrer Rolle anzufreunden. Die Aussicht auf eine Fahrt über das Meer war verlockend, ganz ohne Zweifel. Aufregung paarte sich mit leiser Furcht. Das alles war so neu und fremd.
    Fasziniert beobachtete sie das Treiben im Hafen. Die Venezianer hatten eine Flotte von siebzehn Galeeren bereitgestellt. Jedes Schiff fasste über fünfhundert Menschen, einschließlich der zweihundert Ruderknechte, deren Muskelkraft sie über das Meer bewegen würde. Segel wurden auf venezianischen Galeeren nur gesetzt, um die Kraft der Riemen zu verstärken.
    Die Schiffe ankerten in zwei Reihen hintereinander, weil der Kai nicht lang genug war, um ihnen allen Platz zu bieten. Auch den übrigen Handelsschiffen, darunter einige aus Arabien, mussten Ankerplätze für die Abwicklung ihrer Geschäfte zur Verfügung gestellt werden. Venedig war keine Stadt der Wohltäter, sondern ein schwerreiches Handelszentrum. Erzbischof Aribert mochte mit seinem Gerede von Reinheit und der Befreiung des Morgenlandes die Mailänder geblendet haben, doch die Venezianer waren aus anderem Holz geschnitzt. Für sie zählte allein die bare Münze. Seit dem Untergang Konstantinopels, dem stärksten Gegenspieler um die Handelshoheit im Mittelmeer, schien der Aufstieg der Lagunenstadt unaufhaltsam.
    Saga sah zu, wie Pferde an Bord der Santa Magdalena verladen wurden. Über einen Steg führte man die widerspenstigen Tiere durch eine Luke ins bauchige Innere des Schiffes. Der Einstieg im Rumpf würde später fest verschlossen und mit Teer abgedichtet werden, damit bei hohem Seegang kein Wasser eindringen konnte. Auf dem dunklen Deck wurden die Tiere mit Lederriemen festgebunden.
    Die gewaltigen Dreimaster waren von einem Gewirr aus Hanftakelage umsponnen. Die Segel hatte man mit roter Lohefarbe behandelt, damit sie nicht vermodern konnten. Das Achterkastell, auf dem Saga stand, war so groß wie ein Haus und bildete, mit Ausnahme der Mastkörbe, den höchsten Punkt der Santa Magdalena. Ein kleineres Vorderkastell befand sich vorn am Bug des Schiffes und war genau wie das hintere von einem hölzernen Zinnenkranz umgeben. Dort stand im Augenblick Berengaria mit gespreizten Beinen und brüllte Befehle zum Kai hinüber. Die muskulösen Arme der Normannin glänzten im Sonnenschein wie Ankerketten. Saga fand, dass sich Berengarias Hände ein wenig zu fest an die

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