Herrin der Lüge
einem einzigen Ort musste mittlerweile auch in entlegene Regionen gedrungen sein und Gauner und Verbrecher aller Art herbeigelockt haben. Aber Saga vermutete, dass einige der Mädchen dem Heer eher freiwillig den Rücken kehren würden. Schwer zu sagen, welche die richtige Entscheidung war; die Gefahr, im Mailänder Moloch zu Grunde zu gehen, wog ebenso schwer wie alle Strapazen der Schifffahrt nach Osten und die Aussicht, Sarazenen und Sklavenhändlern in die Hände zu fallen.
Und du?, fragte sie sich. Was willst du eigentlich? Geht es dir wirklich noch um Faun in seinem Kerker auf Burg Lerch? Oder bist du, auf gewisse Weise und ohne es selbst zu merken, tatsächlich zur Magdalena geworden?
Gab es überhaupt einen Unterschied zwischen ihr und den wahren Propheten, von denen die Bibel erzählte? Wessen Stimme hatten sie im Inneren vernommen? Was hatte diese heiligen Männer so sicher gemacht, dass es Gott war, der zu ihnen sprach?
Einmal mehr verdrängte sie all diese Fragen. Die Sorge um Zinder lenkte sie ab.
Um sie herum wurde gesungen und gescherzt, gestritten und erbittert debattiert. Ein Pferd trampelte sie beinahe nieder, als sein Reiter es in großer Eile zwischen den Zelten Richtung Westen galoppieren ließ. Er zügelte das Tier, als er Saga zu Boden gehen sah, riss es herum und beugte sich aus dem Sattel. »Alles in Ordnung?«
Sie erkannte ihn sofort. Es war Jannek, der Söldner mit dem fehlenden Schneidezahn. Sie streifte die Kapuze zurück.
»Magdalena!«, entfuhr es ihm.
»Du reitest fort?«, fragte sie mit einem Blick auf seine prall gefüllten Satteltaschen.
»Ich … nun, Hauptmann Zinder hat uns nach Hause geschickt. Oder wo immer wir auch hingehen wollen. Der Erzbischof hat unseren Sold ausgezahlt.« Er grinste, aber das ließ ihn nur noch beunruhigter erscheinen. »Das Anderthalbfache von dem, was vereinbart war.«
»Wo finde ich Zinder?«
»Ihr müsst Euch beeilen, wenn Ihr ihn noch antreffen wollt.«
»Zeigst du mir den Weg?«
Er deutete in die Richtung, aus der er gekommen war. »Dort entlang. Die meisten von uns haben ihre Zelte bereits abgebaut.«
Sie dankte ihm und eilte weiter. Sie wartete darauf, wieder den Hufschlag seines Pferdes zu hören, aber etwas ließ ihn zögern. Vielleicht blickte er ihr nach. Sie sah nicht über die Schulter, um sich zu vergewissern.
Zinders Zelt stand inmitten eines Rings aus niedergedrücktem Gras. Bis vor kurzem hatten hier noch andere Unterkünfte gestanden. Ein paar zerbrochene Holzstangen lagen umher, die üblichen Abfälle einer aufgegebenen Lagerstelle. Der überwiegende Teil des Söldnertrupps hatte sich bereits davongemacht.
»Ich hatte gehofft, dass ich dich noch hier treffe«, sagte sie, als sie die Plane seines Zelts beiseite schlug. Eine einzelne Öllampe erhellte den Innenraum. Zinders Gestalt war kaum mehr als ein dunkler Umriss, der mit hektischen Bewegungen etwas in Bündel stopfte. Er wirkte fahrig und roch nach Wein. Wahrscheinlich war das hier nicht der beste Augenblick für ein Gesprach, aber sie fürchtete, dass es die letzte Möglichkeit dazu war.
Er drehte sich nur kurz um und wandte sich dann wieder seiner Arbeit zu. Ein Würfelbecher verschwand in seinem Bündel, ein ausgepresster Lederschlauch, ein Stück Pergament., »Du gehst also«, sagte sie.
»Frag die Gräfin, wenn du irgendwas wissen willst.«
»Ich möchte es aber gerne von dir hören.«
»Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig.«
»Nein. Aber du hast mal zu mir gesagt, dass es nicht richtig ist, diese Mädchen da draußen im Stich zu lassen.« Sie lächelte. »Irgendwas in der Art, jedenfalls.« »Mag sein.« »Und?«
Er wirbelte herum. »Was, und?«
»Niemand zwingt dich, fortzugehen.«
»Violante hat mich aus ihren Diensten entlassen.« Er sagte das, als bereitete ihm jedes einzelne Wort tiefe Abscheu. Erneut wandte er sich seinem Gepäck zu.
»Soweit ich weiß, war das die Entscheidung des Erzbischofs.« Saga zögerte. »Ich habe euch reden hören, heute Nachmittag im Palast.«
»Lass es, Saga.« Er schüttelte müde den Kopf. »Ich bleibe nicht hier.« Mit der Fußspitze stieß er gegen einen umgestürzten Tonkrug am Boden. »Betrinken kann ich mich auch anderswo.«
»Violante wird dich vermissen.«
Seine Bewegung war so schnell, dass sie vor Schreck beinahe rückwärts aus dem Zelt gestolpert wäre. Innerhalb eines Herzschlags stand er vor ihr und hatte sie bei den Schultern gepackt. »Violante wird fünftausend Mädchen ins Verderben führen,
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