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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Ich sehe aus wie er, dachte Maria, nur kleiner. Ein alter Mann, der ihnen über den Weg lief, musterte sie argwöhnisch und dachte vielleicht das Gleiche.
    Die Gasse öffnete sich zum Hafen hin. Der Bethanier hielt an und legte Maria eine Hand auf die Schulter. Im Sattel, während ihres tagelangen Ritts durch die Ebene, hatte sie sich an seine Berührung gewöhnt. Sie zuckte nicht mehr zurück. Nur ihre Finger schlossen sich ein wenig fester um den Dolchgriff.
    Vor ihnen lag in zwei imposanten Reihen hintereinander eine Flotte aus mächtigen Galeeren. Es waren nicht die ersten Schiffe, die Maria sah, seit sie die Stadt erreicht hatten, aber aus der Nähe erschienen sie ihr ungleich beeindruckender. Gigantisch wuchsen sie in den mondgrauen Nachthimmel, den ein Spinnenetz aus Tauen und Seilen in Splitter zerschnitt. Silbergraues Halblicht lag über Rümpfen und Aufbauten und ließ die Szenerie seltsam flach erscheinen.
    An Bord der Schiffe bewegten sich Bewaffnete auf langsamen Patrouillengängen, nur Schatten und Silhouetten, die Maria erst bemerkte, als sie eine Weile lang auf dieselbe Stelle blickte. Schlagartig wurde ihr klar, dass es auf den Schiffen von Wächtern nur so wimmelte. Weitere standen am Kai und blickten herüber zur vorderen Häuserzeile.
    Zu uns, dachte Maria. Sie beobachten uns.
    Der Bethanier ließ sich davon nicht abschrecken, wanderte ohne Hast an den Fassaden vorüber und tat, als blicke er stur nach vorn. Doch Maria hörte es unter seiner Kapuze rascheln, wenn er heimlich zur Seite schaute, geschützt von schwarzem Samt.
    Sie schlenderten parallel zur Uferkante, vorbei an mehreren Schiffen. Maria stellte sich vor, wie ihnen in der Finsternis die Augen der Wachtposten folgten. Gelegentlich hörte sie Eisen scheppern, das Rasseln von Kettenhemden oder das helle Klirren von Klingen, die über Schleifsteine gezogen wurden. Ansonsten herrschte Stille.
    »Was tun wir hier?« Sie hielt die Anspannung kaum noch aus. Sie hatte gelernt, nur die nötigsten Fragen zu stellen, und dies hier war keine günstige Gelegenheit. Aber ihre Neugier war zu groß, und der Dolch zwischen den Falten des Mantels wurde immer schwerer.
    Der Bethanier gab keine Antwort, zischte nur ein »Still!« aus dem Schatten seiner Kapuze.
    Noch drei Schiffe ließen sie hinter sich, ehe der Bethanier stehen blieb. Er hatte sich dazu den Zugang einer schmalen Gasse ausgesucht, kaum mehr als eine Kerbe zwischen den Häusern. Der Spalt schluckte jegliches Licht, nach nur wenigen Schritten verlor sich das Pflaster in Schwärze. Vom Schiff aus mussten die beiden Gestalten am Ufer vollständig damit verschmelzen.
    »Das dort drüben ist die Santa Magdalena«, raunte der Bethanier so leise, dass Maria erst nach einem Atemzug bemerkte, dass er gerade mit ihr sprach.
    Erst als sie hinsah und erkannte, dass dort mehr Wachtposten standen als anderswo, weckte das ihr Interesse. Vielleicht hatte der Bethanier vor, sich auf das Schiff zu schleichen? Ganz sicher sogar. Falls dem wirklich so war, standen die Chancen nicht schlecht, dass man ihn erwischen und töten würde.
    Nein, dachte sie gleich darauf, er ist zu schlau. Sie werden ihn nicht fassen. Und wenn doch, dann würde er es sein, der sie tötete. Unter seinem Mantel trug er die Sichelaxt, einen Dolch und ein Kurzschwert. Maria hatte gesehen, wie er die Waffen an seinem Gürtel befestigt hatte. Solange er mit Gegenwehr rechnete, würde er wachsam sein. Deshalb setzte sie so große Hoffnung in den Dolch, den sie heimlich am Leib trug.
    Er vertraute ihr.
    Er mochte sie.
    Das war gut. Er würde die Klinge nicht kommen sehen. Nicht i hre.
    »Wirst du jemanden umbringen, der auf diesem Schiff ist?«, fragte sie, als er wie so oft dem ersten Satz keinen zweiten folgen ließ.
    Die Öffnung seiner Samtkapuze wandte sich kurz in ihre Richtung, dann wieder hinüber zur Galeere.
    »Nein«, sagte er. »Das wirst du für mich tun.«
    »Ich?«
    Die Kapuze erbebte. »Mit dem Dolch unter deinem Mantel.«
    Lange nach Einbruch der Dunkelheit verließ Saga ihre Kabine. Zwei Wächterinnen vor der Tür folgten ihr in einigem Abstand. Saga gab ihnen keine Erklärungen. Sie wollte allein sein, und ihr fiel nur ein einziger Ort ein, an dem ihr das gelingen würde.
    Die zwei Kriegerinnen gehörten zu Berengarias Söldnerinnen, obwohl viele Wachdienste mittlerweile von Kreuzfahrerinnen verrichtet wurden. Ihre Unterweisung an Lanze und Schwert war nur für den Marsch nach Venedig unterbrochen worden. Seit ihrer

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