Herrin der Lüge
Vielleicht schon sehr bald.«
Violante blickte zu den offenen Luken. Möwen schwebten draußen im Sonnenschein. »Ihr werdet bei den Mädchen auf einem der Unterdecks schlafen«, sagte sie steif, als müsste sie sich zu jedem Wort zwingen. »Es gibt keine Kabine mehr, die wir Euch zur Verfügung stellen könnten.«
»Noch haben wir die Entscheidung der Magdalena nicht gehört«, sagte Karmesin. Wieder sah sie Saga direkt in die Augen, und jetzt wirkte sie offen amüsiert.
Berengaria trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. »Da draußen gibt es eine Menge zu tun. Trefft Eure Entscheidungen ohne mich.« Damit verließ sie die Kajüte und schlug die Tür hinter sich zu.
Karmesins Augen blieben unverändert auf Saga gerichtet. »Nun?«
»Es gibt offenbar Zwänge, die gebieten, Euch aufzunehmen, Karmesin. Wenn Ihr Euch mit den Bedingungen einverstanden erklärt, die Gräfin Violante genannt hat, dann seid willkommen.«
Karmesin verbeugte sich, und wie alles, was sie tat, wirkte auch dies ein wenig spöttisch. »Ich werde den Kutscher bitten mein Gepäck an Bord zu bringen.« Sie öffnete die Tür. »Seid versichert, dass ich den Frauen auf dem Unterdeck nicht zur Last fallen werde.«
»Ihr braucht nicht auf dem Unterdeck zu schlafen«, sagte eine Stimme auf dem Gang.
Violante und Saga blickten überrascht an Karmesin vorbei durch die Tür. Dort stand Jorinde, eingeschüchtert, aber sichtlich entschlossen. Ihre Unterlippe wies Bissspuren auf. »Ihr könnt mit in meiner Kabine schlafen, wenn Ihr mögt«, sagte sie zu Karmesin.
O nein, dachte Saga.
Violante sah aus, als müsste sie jemandem die Augen auskratzen.
»Das ist ein großzügiges Angebot«, sagte Karmesin sehr freundlich. »Seid Ihr auch sicher, dass es Euch ernst damit ist?«
Jorinde nickte würdevoll. »Ich bin Jorinde von Rialt, und es würde mich ehren, wenn Ihr Ja sagtet.«
Karmesin lächelte. »Fragen wir die Magdalena«, schlug sie vor.
Sagas Verwirrung wuchs. Wie machte Karmesin das nur? Man wollte wütend auf sie sein und begann doch zugleich, sie zu mögen.
Violante schnaubte erbost, sagte aber nichts.
»Von mir aus«, entschied Saga. »Irgendwer wird Euch helfen, ein zweites Lager aufzustellen.«
Karmesin sah aufrichtig erfreut aus, verbeugte sich abermals vor Saga, dann noch tiefer in Jorindes Richtung. »Ich bin Euch zu Dank verpflichtet, Jorinde von Rialt.«
Die beiden gingen den Gang hinunter, während Saga vorsichtig zur Gräfin hinübersah. Violante hatte beide Fäuste geballt.
Am Ende des Korridors ertönte das Knirschen einer Tür, dann Karmesins entzückter Ausruf: »Du liebe Güte, was für wundervolle Farben!«
Das Attentat
Der Tod kam bei Nacht, und er kam nicht allein. Ein kleines Mädchen lief an seiner Seite.
Die beiden Gestalten, die das Gasthaus nahe des Hafens verließen, wurden eins mit dem Mondgrau der Gassen. Maria hatte längst aufgegeben, darüber nachzugrübeln, ob der Bethanier tatsächlich einmal tot gewesen war. Heute jedenfalls sah er aus, als wäre er es noch immer.
Den Mantel, den er ihr gekauft hatte, hatte sie sich eng um den mageren Leib geschlungen. Mit einer Hand hielt sie ihn geschlossen; zugleich presste sie damit verstohlen den Dolch an ihre Brust. Er ließ sich unter ihrem neuen Kleid nicht befestigen, weil sie keinen Gürtel besaß, also musste sie ihn mit der Hand festhalten. Zwischen dem gerafften Stoff fiel er am wenigsten auf. Die Kälte der Klinge schnitt in ihre Haut. Die Nacht war frisch. Wind wehte von Süden her über das Meer, sammelte den Geruch von Algen und Schlick an den Ufern der Laguneninseln und trug ihn stadteinwärts. Er vermischte sich mit dem Gestank des schmutzigen Wassers zwischen den Schiffsrümpfen und brachte hier und da eine Note exotischer Gewürze mit, die tagsüber verladen worden waren.
Maria hatte noch immer Angst vor dem Bethanier, aber es war ein anderes Gefühl als die heillose Panik, die sie zu Anfang in seiner Nähe verspürt hatte. Er bedrohte sie nicht, redete sogar dann und wann über Nichtigkeiten mit ihr. Sie hatte das Gefühl, dass er sich Mühe gab, ihr gegenüber menschlich zu sein. Fast so als wollte er ihr etwas beweisen. Oder sich selbst.
Doch er blieb der Mörder ihrer Eltern, ihrer Brüder. Ihre Leichen hatten zwischen den toten Schweinen im Stall gelegen. Maria würde diesen Anblick niemals vergessen.
Gemeinsam gingen sie durch die nächtlichen Gassen Venedigs, beide in ihre Mäntel gehüllt, beide mit hochgeschlagenen Kapuzen.
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