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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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gekleidete Frau zu nehmen.
    Saga schüttelte den Kopf. »Sollte ich?«
    Jorinde verschluckte sich fast vor Aufregung. »Es heißt, Karmesin habe es schon immer gegeben. Oder eine Karmesin. Schon zu Zeiten der Römer war sie die bevorzugte Konkubine ihrer Kaiser.«
    »Ihre Hure«, verbesserte die Leibwächterin. Sie machte keinen Hehl aus ihrer Abneigung. Mittlerweile wandelte sich auch bei anderen Frauen an Bord das erste Staunen in unverhohlenes Misstrauen. Nur Jorinde und eine Hand voll andere glühten vor Erregung.
    »Genau weiß das niemand«, sagte Jorinde und schenkte der Kriegerin einen strafenden Blick.
    Die Gräfin und die Frau in Rot gingen an ihnen vorüber und verschwanden durch eine Tür in den Innenräumen unter dem Achterkastell. Sie sprachen leise miteinander, aber Saga verstand kein Wort. Mehrere Bewaffnete bezogen vor der Tür Stellung, nachdem sie hinter den beiden Frauen und Berengaria zugefallen war.
    Saga stupste Jorinde mit dem Ellbogen an. »Erzähl weiter.«
    Das Funkeln in Jorindes Augen wollte nicht verblassen, so als hielte sich ein Spiegelbild der rätselhaften Besucherin beständig in ihrem Blick. »Es ist ein Gerücht, oder besser eine Legende.«
    Die missmutige Kriegerin wollte schon wieder etwas hinzufügen, aber Saga brachte sie mit einem Wink zum Schweigen. Die Frau drehte sich um und entfernte sich ein paar Schritte.
    »Die erste Karmesin hat angeblich in den letzten Tagen des Römerreiches gelebt«, sagte Jorinde, nahm auf einer Kiste Platz und faltete die Hände im Schoß. »Seither hat es in Rom immer eine Frau namens Karmesin gegeben, mitten im Herzen der Macht, stets an der Seite der Herrschenden – und doch im Verborgenen. Die einen sagen, sie sei nichts als« – ein finsterer Blick hinüber zu der Kriegerin – »eine Hure. Die anderen halten sie für die engste Vertraute, die die Mächtigen je hatten. Die letzten römischen Kaiser haben sie ihren Gemahlinnen vorgezogen, und als später die Päpste zur größten Autorität in Rom wurden, nun, da ging Karmesin in ihren … sagen wir, Besitz über. Aber auch das sind nur Gerüchte. Kein Papst hat sich je mit ihr gezeigt, natürlich nicht. Man erzählt sich Dinge über sie, in Rom ein wenig lauter als anderswo, aber ob irgendetwas davon der Wahrheit entspricht?« Sie hob die Schultern, fuhr aber mit Verschwörermiene fort: »Jedenfalls hat man lange geglaubt, es gäbe nur eine einzige Karmesin, eine Unsterbliche, die von Generation zu Generation weiterlebt wie ein Gespenst, das in den Hallen des Papstpalastes umherspukt. In Wahrheit ist es wohl eher so, dass es viele gegeben hat, eine nach der anderen. Sie reichen ihren Namen weiter wie einen Ehrentitel. Es heißt dass sie von Kind an irgendwo in Rom auf den Tag vorbereitet werden, an dem sie den Namen der Karmesin übernehmen dürfen … an dem sie zur Karmesin werden. An einem geheimen Ort wird ihnen alles beigebracht, was sie in ihrem späteren Leben wissen müssen, von feinem Umgang und Wortgewandtheit über die Kunst der Liebe bis hin zu …« Sie senkte die Stimme. »Sie können mit bloßen Händen töten.«
    Ein spöttisches Lächeln huschte über Sagas Züge. Das alles klang nach einer Geschichte, die sich gelangweilte Hofdamen mit hochroten Köpfen beim Sticken zuflüsterten. Es wunderte sie nicht, dass ausgerechnet Jorinde – die auf Hoch Rialt wie eine Gefangene gelebt hatte – vom Mysterium der Karmesinlegende angezogen wurde.
    Karmesin, die Kaiserkonkubine von Rom. Die Meisterhure der Päpste. Sagas Lächeln wurde noch breiter. Und doch –
    »Du glaubst mir nicht.« Jorinde machte einen Schmollmund.
    Saga hob abwehrend die Hände. »Nein, das ist es nicht. Aber kannst du dir vorstellen, weshalb sie hier ist? Ich meine, war nicht irgendwann mal die Rede vom Kreuzzug der Jungfrauen?«
    »Ich bin keine Jungfrau mehr«, sagte Jorinde stur.
    »Das weiß ich. Genauso wenig wie wahrscheinlich die Hälfte aller Frauen auf diesen Schiffen.« Saga seufzte. »Gut … Karmesin, also. Was könnte sie –« Sie brach ab, als unvermittelt Erinnerungen in ihr aufstiegen, nicht an diesen Namen – der war ihr ganz sicher nie zuvor zu Ohren gekommen –, aber an Geschichten, die sie irgendwann einmal gehört hatte, nein, nicht einmal echte Geschichten, sondern Gerüchte über eine Frau an der Seite des Papstes, oder Gerüchte über Gerüchte darüber. Sie hatte ihnen nie besondere Aufmerksamkeit geschenkt, weil sie zu der Art von Gerede gehörten, vor dem man sich auf den

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