Herrin der Lüge
dem Piratenschiff bevorstand. Was würde geschehen, wenn die Dromone die Flotte der Kreuzfahrerinnen einholte? Würde Achards Frau freiwillig zu ihm zurückkehren? Und wenn nicht? Abgesehen davon: Wie sollten Faun und Tiessa von Bord der Kriegsgaleere hinüberwechseln zu Saga und den anderen?
Er mochte jetzt nicht darüber nachdenken. Früher oder später würde ihnen gar keine andere Wahl bleiben, als sich damit auseinander zu setzen. Aber nicht jetzt.
»Heute Nacht schleiche ich an Deck und besorge Wasser«, sagte er. »Kein Mensch wird merken, dass es uns überhaupt gibt.«
Sie nickte, wenn auch zögernd.
Behutsam zog er sie an sich und streichelte ihr Gesicht. Er fand, dass sie sich schrecklich verletzlich anfühlte. Dabei hatte sie in den vergangenen Wochen oft genug größeren Mut bewiesen als er.
»Wir schaffen das«, sagte er. »Ganz bestimmt.«
Eine Weile lang schwieg sie, aber dann rückte sie plötzlich eine Handbreit von ihm ab und hob den Kopf. »Ich kann nicht mehr zurück, weißt du?«
»Zurück zu deiner Familie?« Sie nickte. »Und zurück ins Reich. Sie wissen über alles Bescheid. Über das Dokument, und dass ich es habe, und nun wahrscheinlich sogar, dass du bei mir bist. Bestimmt hat der Falkner unterwegs eine Botschaft an seinen Herrn abgeschickt.« Sie seufzte. »Ich hätte dich in all das nicht hineinziehen dürfen.«
Ein sprödes Lachen kam über seine Lippen. »Du mich? Sind wir auf der Suche nach meiner Schwester oder nach deiner?«
Sie lächelte. »Vielleicht wäre ich so oder so auf einem Schiff gelandet. Womöglich ist das hier noch besser als jetzt an Bord der Kreuzfahrerflotte zu sein.«
Er runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«
»Fünftausend Mädchen auf siebzehn Schiffen. Dazu ein paar tausend Ruderer und Seeleute. Und sie alle wollen ins Heilige Land, um einen Krieg zu führen, dessen Ausgang nichts mit ihnen, aber umso mehr mit Gottes Wohlwollen zu tun hat. Kommt dir das etwa nicht verrückt vor?«
»Du wolltest dich ihnen doch anschließen.«
»Bevor ich …« Sie zögerte. »Bevor ich dich getroffen habe. Da wusste ich nicht, was ich sonst tun sollte.«
Er sah in ihre Augen und hatte das Gefühl, trotz der Dunkelheit darin lesen zu können.
Blinde Passagiere
In der Nacht zog Faun seine Stiefel aus und kletterte barfuß die Leiter hinauf. Vorsichtig schob er die Luke nach oben, nur einen Spaltbreit, um hinaus aufs Deck zu blicken. Das Rauschen der Ruder hatte längst aufgehört. Aus den Mannschaftsquartieren drang Lärm durch die dicken Holzwände des Schiffs hinab in den Laderaum. Schon vor einer Weile war unter lautem Rasseln und Donnern der Anker geworfen worden. Das Piratenschiff verbrachte die Nacht im Schutz der Küste.
Faun hatte gewartet, bis oben auf Deck keine Schritte mehr ertönten. Er war sicher, dass es Wächter gab, aber das beständige Trampeln, das tagsüber in ihren Ohren gedröhnt hatte, war verebbt.
Sein Blick durch den Lukenspalt war wenig ergiebig. Die Sicht reichte nur wenige Schritt weit bis zu den Kisten, hinter denen sie sich am Vorabend versteckt hatten. Seitlich erkannte er die verlassenen Ruderbänke.
Er musste sich dazu zwingen, die Luke weiter nach oben zu drücken. Es beunruhigte ihn, dass er nur einen so kleinen Teil des Decks einsehen konnte. Sogar auf der anderen Seite der Klappe mochte jemand stehen, ohne dass Faun ihn bemerkte. Jeden Moment erwartete er, dass die Luke von oben gepackt und aufgerissen wurde.
Ein letztes Mal schaute er zurück in die Tiefe des Laderaums, hinunter zu Tiessa, die am Fuß der Leiter stand. Im Dunkeln sah er sie nur als grauen Schemen, kein Gesicht mehr, keine Regung. Er winkte ihr zu, dann schlüpfte er ins Freie und ließ die Luke ganz sanft zurück in den Rahmen sinken. Gleichzeitig schaute er sich um, entdeckte noch immer keine Menschenseele und huschte mit ein paar schnellen Schritten in den Schutz des Ki stenstapels.
Sein Blick fiel über die Reling. Mondlicht glänzte auf dem Wasser und einem flachen Küstenstreifen. Sie waren weiter vom Land entfernt, als er vermutet hatte. Das Meer musste hier sehr seicht sein. Das Ufer erhob sich als grauer Wall jenseits des Wassers, dahinter wellten sich sanfte Hügel einem verwaschenen Horizont entgegen. Nirgends gab es einen Hafen, nirgends auch nur ein Gehöft. Die Piraten kannten wahrscheinlich viele solcher Ankerplätze, menschenleere Flecken an der Küste, wie geschaffen für ein Schiff, dessen Besatzung es vorzog, unsichtbar zu bleiben.
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