Herrin der Lüge
Faun überlegte nicht lange. Sein Dolch lag noch immer auf der Reling. Zur Not würde er schnell genug danach greifen können, um sich zu verteidigen.
Wo, zum Teufel, steckte der Pirat?
Er entkorkte den zweiten Schlauch, beugte sich wieder ins Fass hinab und presste den Lederbalg unter die Oberfläche. Einmal glaubte er ein Geräusch zu hören, das nicht von den Luftblasen stammte, aber er hatte sich gerade noch gut genug im Griff, um nicht aufzufahren und dadurch alles zunichte zu machen. Ganz langsam drehte er den Kopf so weit es ging und blickte über die Schulter. Er steckte viel zu tief im Fass, um mehr als die Sterne über sich am Himmel zu sehen.
»Guten Abend«, sagte eine Stimme hinter dem Holz.
Mit Fauns Zurückhaltung war es jäh vorbei. Er schnellte zurück, stieß sich den Kopf am gegenüberliegenden Fassrand und wurde einen Augenblick später von kräftigen Armen gepackt, die seine Handgelenke umklammerten. Verzweifelt versuchte er sich zu wehren, doch der Mann war viel stärker als er. »Herrgott noch mal, halt still! Ich will dir nichts tun.«
Verwundert kniff Faun die Augen zusammen. »Zinder?«
Der Söldner hatte den Dolch, mit dem er sich vorhin die Fingernägel gereinigt hatte, wieder eingesteckt. Aus der Scheide an seinem Gürtel ragte der Griff eines Schwertes mit ungewöhnlicher Kreuzstange. Faun war die Waffe schon während ihres Gesprächs am Kanal aufgefallen, doch jetzt sah er sie mit anderen Augen – als Bedrohung.
Faun dachte an seinen eigenen Dolch hinter ihm auf der Reling, doch der Söldner hielt ihn noch immer fest. »Was tust du hier?«, fragte Faun.
Eine Falte erschien zwischen Zinders Augenbrauen. »Das Gleiche sollte ich dich fragen. Aber sprich leise, wenn du nicht willst, dass jemand dich hört. Unser Freund Achard vielleicht. Oder hundert andere Kerle, die dir ohne zu zögern die Haut abziehen würden.«
Faun nickte, und nach einem prüfenden Blick ließ Zinder ihn los.
»Warum bist du auf diesem Schiff?«, fragte Faun noch einmal und trat einen Schritt zurück in Richtung Reling.
Zinder zuckte die Achseln. »Ich habe Arbeit gebraucht. Ich bin Söldner. Ich kann nichts anderes.«
Da schien noch etwas zu sein, das er lieber für sich behielt Faun spürte, dass die Gelassenheit des Mannes gespielt war. Zinder stand unter ebensolcher Anspannung wie er selbst.
Der Söldner drehte sich um, ging ein paar Schritte auf die Treppe zu, und blickte sichernd auf das Achterdeck. Faun atmete tief durch. Seine Linke tastete hinter sich, stieß gegen den Dolch auf der Reling – und bekam ihn gerade noch zu fassen bevor er über Bord rutschen konnte.
Zinder kehrte zurück. »Ist das Mädchen noch bei dir? Tiessa?«
Faun zögerte. »Nein«, log er kurz entschlossen. »Sie ist in Venedig geblieben. Das hier ist kein Ort für sie.« »Wo hast du dich seit der Abfahrt versteckt?«
»Unter Deck.«
»So?« Zinder verschränkte die Arme. »Es ist mutig, sich auf ein Schiff zu schleichen, wenn man sich nicht darauf auskennt. Und wenn man niemanden dabeihat, der vielleicht mehr darüber weiß als man selbst.«
Er glaubt mir nicht, dachte Faun. Hastig hob er den vollen Lederschlauch auf und hängte ihn sich um die Schultern.
Zinder kam näher. Kaum zwei Handbreit trennten sie voneinander. Die Reling drückte kantig in Fauns Rücken.
Er versuchte, in der Miene des Söldners zu lesen. Zinder mochte Saga, hatte er behauptet. Aber genügte das, um ihren Bruder nicht zu verraten? Faun bezweifelte es.
»Wisst ihr beiden überhaupt, auf was ihr euch eingelassen habt?«, fragte Zinder. »Hast du eine Ahnung, was das für ein Schiff ist?«
»Ein Piratenschiff.«
»Schlimmer. Die Saragossa ist nicht irgendein Piratenschiff. Sie ist das Flaggschiff von Kapitän Qwara, einem der schlimmsten Sklavenhändler im ganzen Mittelmeer. Eine ganze Flotte von Schiffen mit Sklavenhändlern und Piraten wartet mehrere Tagreisen von hier darauf, dass die Saragossa zu ihnen stößt. Unter Qwaras Kommando planen sie den größten Raubzug, den das Mittelmeer je gesehen hat. Fünftausend Jungfrauen fallen einem nicht alle Tage in die Hände.«
Der Söldner hatte hastig gesprochen, aber Faun verstand nur zu gut, was er sagte. Mit einem Schlag war seine Angst um Saga wieder greifbar. Zuletzt war die Sorge um sie immer diffuser geworden; nun aber war sie so intensiv wie am ersten Tag.
»Was hat dieser Qwara davon, Achard an Bord zu nehmen?«, fragte er. »Was hat er ihm zu bieten?«
»Männer.« Zinder sah
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