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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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gehen.«
    »Das ist ein schrecklicher Ort«, flüsterte sie. »So viele Tote.«
    »Wir sind mitten in einen Krieg gestolpert.« Zinder grinste plötzlich. »Aber keine Sorge – damit kenne ich mich aus.«
    Tiessa schlug fröstelnd die Arme um ihren Oberkörper.
    Faun wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte, als er abrupt aus einem Albtraum von brennenden Bäumen mit Menschengesichtern erwachte. Der Himmel war noch immer stockfinster, es standen keine Sterne am Himmel. In den halb zerfallenen Zinnen über ihren Köpfen pfiff ein scharfer Wind vom Meer her landeinwärts.
    Tiessa lag zusammengerollt am Fuß der Mauer. Die Glut des herabgebrannten Lagerfeuers schimmerte auf ihren Zügen. Ihre Wangenmuskeln zuckten, ihre Lippen formten stumme Worte. Faun war nicht der Einzige, der in dieser Nacht schlecht träumte. Kurz erwog er, sie zu wecken, dachte aber dann, dass unruhiger Schlaf besser war als gar keiner.
    Im ersten Moment konnte er Zinder nirgends entdecken. Dann sah er ihn ein paar Schritt entfernt an einem Steinquader stehen, mit dem Rücken zur Feuerstelle, gerade noch am Rand des Lichtscheins. In der linken Hand hielt er einen lodernden Holzscheit. Sein Kopf war leicht vorgebeugt, als untersuche er etwas auf der Oberfläche des Quaders.
    Faun wunderte sich, blieb aber liegen und versuchte weiterzuschlafen. Sie alle hatten Ruhe dringend nötig, und solange Zinder ihn nicht zur Wachablösung weckte, wollte er die Zeit so gut wie möglich nutzen. Dann aber schlug er die Augen abermals auf und blickte zu dem Söldner hinüber. Zinder stand vollkommen bewegungslos.
    Langsam hob Faun den Kopf. Sein Blick wanderte zurück zur schlafenden Tiessa, dann über ihre Sachen, die verstreut um die glimmende Feuerstelle lagen. Er hatte sein eigenes Bündel als Kissen benutzt, aber Tiessas lag unweit ihrer Füße. Es war geöffnet. Die Puppe ragte daraus hervor. Ihr Kopf fehlte.
    Faun konnte die dunkle Öffnung im Inneren der Puppe deutlich erkennen, nicht aber, ob noch etwas darin steckte. Tiessa hätte das Geheimversteck niemals offen gelassen, zumal Zinder nichts von dem Dokument darin wusste.
    Nicht bis heute Abend.
    Langsam zog Faun die Beine an und stand auf. Nahezu lautlos näherte er sich von hinten dem Mann, dessen grauer Pferdeschwanz weit über seinen Rücken reichte.
    »Ich wusste nicht, dass Söldner lesen können«, bemerkte er, als ihn noch zwei Schritte von Zinder trennten.
    Der Söldner schaute sich nicht um. »Manche schon«, sagte er ohne jede Spur von Überraschung. »Du solltest das nicht zu oft machen, Junge: dich von hinten an mich heranschleichen.«
    »Muss ich Angst vor dir haben, Zinder? Und Angst um Tiessa?«
    Zinder stieß ein Seufzen aus und drehte sich um. Er ließ den brennenden Ast auf dem Steinquader liegen. In der Rechten hielt er das Dokument aus Tiessas Puppe. Der Flammenschein umrahmte ihn jetzt von hinten, sein Gesicht lag im Dunkeln.
    »Hast du eine Ahnung, was das ist?«, fragte er.
    »Ja.«
    »Was das wirklich ist?«
    »Ein Dokument. Und es gehört Tiessa. Deshalb frage ich mich warum du –«
    »Ich hab gewusst, dass irgendwas faul ist an euch. Ich war nur nicht sicher, ob ich dieses schlechte Gefühl wegen dir oder wegen des Mädchens hatte.«
    »Und jetzt weißt du’s?«
    »Hast du bemerkt, wie sie zusammengezuckt ist, als ich das Banner des Kaisers gefunden habe? Hast du ihr Gesicht gesehen?«
    »Welchen Grund das auch immer haben mag, es geht dich nichts an. Das ist allein ihre Angelegenheit.« Und irgendwie auch meine, dachte er. »Du hast es selbst gesagt: Hier herrscht Krieg. Und wir sind mitten hineingestolpert.«
    Zinder nickte. »Das könnte ein Grund sein. Aber ich war mir nicht sicher. Tiessa hat all die Zeit über sehr sorgfältig auf ihr Bündel Acht gegeben. Weit mehr als du auf das deine. Ich dachte mir schon, dass sie sich nicht nur wegen ein paar Brotkanten Sorgen macht.«
    »Hast du gehofft, du würdest Gold bei ihr finden?«
    Zinder schüttelte den Kopf. »In einem Land, in dem es vermutlich von marodierenden Soldaten nur so wimmelt, kann es ungesund sein, mit Gold in den Taschen herumzulaufen. Falls Tiessa welches gehabt hätte, dann hätte ich es ins Meer geworfen. Ein paar arme Schlucker lässt man vielleicht am Leben, aber jemanden mit Geld?«
    »Du musst es wissen, nicht wahr?«
    »Treib es nicht auf die Spitze, Junge. Und ich frage dich noch einmal: Weißt du, was hier geschrieben steht?«
    »Nein«, sagte Tiessa auf der anderen Seite des Feuers. »Er hat

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