Herrin der Lüge
selbst in die Hand zu nehmen? Ihr, Gräfin?«
Violante stand auf und stemmte die geballten Fäuste auf die Tischkante. »Dies ist eine militärische Operation. Die Ordnung an Bord muss höchste Priorität haben. Und ich weiß nicht, warum ich Euch das erklären muss.« Ihr Blick war starr auf Berengaria gerichtet, aber die Worte galten ebenso Angelotti.
Saga sah den Kapitän über die Schulter hinweg an – was ein Fehler war. Wenn sie sich zu weit nach links beugte, meldeten sich die Schmerzen in ihrer aufgeschlitzten Wange zurück. Jede ruckartige Bewegung hatte ein quälendes Brennen zur Folge, das oft stundenlang anhielt. Allerdings war der Fleischwulst in ihrem Mund flacher geworden. Sie biss noch immer manchmal darauf – meist unverhofft beim Sprechen –, aber die Heilerin hatte Recht behalten, als sie behauptete, die Schwellung würde zurückgehen.
Doch andere Sorgen waren jetzt dringlicher, wie Berengaria ganz richtig festgestellt hatte. Saga wunderte sich, dass Violante nicht wohlüberlegter damit umging. Vielleicht hatte sie dies alles einfach nur satt. Ja, dachte sie, die Gräfin hat die Nase gestrichen voll von den Hiobsbotschaften, die bei jeder dieser Versammlungen dringlicher und bedrohlicher werden.
»Das ist noch nicht alles«, sagte die Söldnerin, ohne auf Violantes Maßregelung einzugehen. Auch Angelotti schwieg dazu, als gäbe es zwischen ihm und Berengaria ein stummes Abkommen, die Launen der Gräfin zu ignorieren.
»Was noch?« Violante sank zurück auf den Stuhl. Hinter ihr drehte sich der Kapitän um und blickte die Söldnerin ebenfalls an.
»Es betrifft die Magdalena, fürchte ich.« »Mich?«, fragte Saga. »Es werden Zweifel laut.« Violante winkte ab. »Die gibt es seit Wochen.« »Nicht in einem solchen Ausmaß. Und nicht so offen. Meine Hauptleute melden lautstarke Reden in den Unterkünften, sogar während der Übungen. Sieht aus, als wären einige der Mädchen nicht mehr ganz so überzeugt von den göttlichen Eingebungen der Magdalena wie zuvor.«
»Jemand soll die Rädelsführerinnen zur Rede stellen«, sagte Violante. »Und zum Schweigen bringen, falls nötig.«
»Nein – und zwar mit allem Nachdruck!«, fiel Kapitän Angelotti ein. »Keine groß angelegten Strafaktionen, schon gar nicht gegen Frauen.«
»Das obliegt nicht Euch«, sagte Violante eisig. »Für die Mädchen bin ich zuständig.«
Angelotti behielt die Ruhe. »Während der vergangenen Wochen ist es uns erfolgreich gelungen, die Männer von den Frauen fern zu halten und alle Kontakte auf ein Mindestmaß zu beschränken. Aber, was glaubt Ihr wohl, werden meine Männer denken, wenn Ihr beginnt, einige der Mädchen öffentlich auszupeitschen oder ihnen sonst wie Gewalt anzutun?«
Karmesin räusperte sich. »Ein paar wird es zweifelsohne gefallen.«
»Verschont uns mit Eurer Weisheit über Männer«, entgegnete Angelotti. »Nein, etwas anderes wird geschehen. Ein paar werden sich aufplustern, andere gar Helden spielen. Und das, Gräfin Violante, werde ich nicht zulassen. Bis zur Meuterei ist es dann nur noch ein kleiner Schritt.«
Violante schlug die Hände vors Gesicht, schüttelte den Kopf und massierte sich die Augenlider.
»Keine Massenbestrafungen«, wiederholte Angelotti beharrlich. »Das kann nur mit bösem Blut enden.«
»Was also schlagt Ihr vor?« Violante sah vom Kapitän in die Runde. »Bitte, Ihr seid alle gefragt.«
»Schickt mehr Expeditionen an Land«, sagte Berengaria. »Der letzte Hafen, den die Frauen von weitem gesehen haben, war Modon. Und keine von ihnen durfte an Land. Herrgott, nicht einmal wir durften hin. Und es wurde viel zu wenig Nahrung an Bord genommen.«
»Weil unsere Mittel knapp werden«, konterte Violante.
»Trotzdem sollten wir wie geplant Kreta anlaufen«, sagte der Kapitän. »Es wird die allgemeine Moral heben, wenn wir wenigstens so tun, als könnten wir uns frische Vorräte leisten.«
Violante hatte vor einigen Tagen entschieden, nicht der altbewährten Kreuzfahrerroute über die Hafenstadt Kandia auf Kreta zu folgen, sondern auf direktem Wege bis nach Rhodos weiterzureisen. Das würde ihnen eine Ersparnis von drei, vielleicht vier Tagen einbringen, führte sie aber auch durch das Insellabyrinth der Ägäischen See. Weder Saga noch irgendwer sonst war glücklich über diese Entscheidung. Andererseits konnten sie alle es nicht erwarten, endlich ihr Ziel zu erreichen und wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren. Ein paar Tage weniger hatten da durchaus
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