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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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vermutlich Barthaare Jesu, Schenkelknochen der Apostel oder anderen heiligen Tand enthielt.
    Überall huschten Gestalten umher, hangelten sich in die Takelage hinauf und bemannten die Ruderbänke. In Windeseile stand das Schiff unter vollen Segeln, die Riemen tauchten ins Wasser, und die Galeere nahm Fahrt auf. Die Bucht blieb hinter ihnen zurück, die Lichter des winzigen Hafens, dann die Silhouette des Bergdorfs vor dem Sternenhimmel.
    »Faun?« Tiessa hob das Kinn. Ihr Blick, der bis jetzt verschleiert gewesen war, klärte sich. Sie sah ihm in die Augen. Vor lauter Schuldbewusstsein hätte er sich am liebsten abgewandt hielt ihrem Blick aber stand.
    »Das ist ein Fehler«, sagte sie.

Vor der Katastrophe
     
    Viereinhalb Wochen, nachdem die Flotte der siebzehn Galeeren von Venedig aus in See gestochen war, ließ sich die Schwellung von Jorindes Bauch nicht mehr übersehen. Jeder wusste nun, dass sie ein Kind unterm Herzen trug.
    Und sie war nicht die Einzige, wie Berengaria ihnen während einer Besprechung in der Kapitänskajüte der Santa Magdalena mitteilte.
    »Es sieht nicht gut aus«, verkündete die Söldnerführerin. Sie stand unruhig vor dem breiten Kapitänstisch, hinter dem sich Gräfin Violante niedergelassen hatte. Saga saß auf einem Hocker neben ihr, hatte die Füße überkreuzt und die Hände zwischen den Oberschenkeln auf die Schemelkante gestützt.
    Karmesin, die Konkubine des Papstes, lehnte mit verschränkten Armen an der Wand, während Jorinde in einem gepolsterten Sessel Platz genommen hatte und die Hände auf ihrem gewölbten Bauch liegen hatte, als müsse sie das Ungeborene darin vor den Blicken der anderen schützen.
    Kapitän Angelotti war der einzige Mann im Raum. Er stand mit dem Rücken zu den fünf Frauen vor dem Fenster und blinzelte grübelnd in Sonnenstrahlen, die durch Ritzen zwischen den geschlossenen Läden hereinfielen und die Hitze der griechischen See auch hier unten spürbar machten.
    »Was heißt das: Es sieht nicht gut aus?«, fragte die Gräfin.
    »Wir haben mindestens drei Dutzend Schwangere«, sagte Berengaria, die sich einmal pro Woche mit den Befehlshaberinnen an Bord der übrigen sechzehn Schiffe traf und sich von ihnen Bericht erstatten ließ. Ihr oblag es, das Wichtigste an den Führungsstab auf der Santa Magdalena weiterzuleiten. »Wohlgemerkt«, fuhr die Söldnerin fort, »sind das Kinder, die allergrößter Wahrscheinlichkeit nach vor der Abreise ihrer Mütter gezeugt worden sind. Ich schätze, es kommen noch ein paar dazu, die auf die Kappe von Zinders Männern gehen – aber es ist noch zu früh, um das mit bloßem Auge zu sehen.«
    »Wann ist es bei den Ersten so weit?«, fragte Violante schicksalsergeben.
    »Auf der Rosaria gibt es ein fettes Mädchen, das in zwei, drei Wochen werfen wird«, entgegnete die Söldnerin geringschätzig. »Die nächsten dürften nicht allzu viel später folgen.«
    Die Gräfin fluchte verhalten, während Jorinde tiefer in ihren Sessel sank. Sie selbst hatte noch rund vier Monate Zeit, vielleicht ein wenig mehr. Karmesin schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, sagte aber nichts.
    »Weiter«, verlangte die Gräfin.
    Die Söldnerin verlagerte unruhig ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Saga sah ihr an, dass sie am liebsten beim Sprechen auf und ab gegangen wäre, doch dazu war in der überfüllten Kajüte kein Platz. »Wir haben neue Fälle von Skorbut, und mittlerweile sind es viele. Immer mehr Mädchen muss das Zahnfleisch abgeschabt werden, damit sie essen können. Dann gibt es Fieber und Krankheiten, deren Namen ich mir nicht merken kann, die aber wohl mit Hunger und Durst zu tun haben. Überall verlangen die Sprecherinnen der Mädchen, dass wir öfter an Land gehen und Nahrung und frisches Wasser an Bord nehmen sollen.«
    »Ich hoffe doch, du weißt, wie mit solchem Aufruhr umzugehen ist, Berengaria.«
    »Es ist kein Aufruhr«, gab die Söldnerin zornig zurück, »jedenfalls noch nicht. Und ich bitte Euch, im Gedächtnis zu behalten, dass wir kein Gefangenentransport sind. Es wäre ein Fehler, Waffengewalt einzusetzen, um kleine Verfehlungen gegen die Ordnung an Bord der Flotte zu ahnden.«
    Kapitän Angelotti drehte sich nicht um, als er mit einem Nicken zustimmte: »Das sehe ich genauso. Gewalt führt nur zu Gegengewalt. Meuterei ist das Letzte, was wir gebrauchen können. Nicht bei fünftausend Frauen und fast dreieinhalbtausend Ruderknechten und Seeleuten. Wer will sie aufhalten, wenn sie beschließen, das Steuer

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