Herrin der Lüge
Unbarmherzigkeit mit Bedacht aufgebaut, sie war Teil seiner angenommenen Insignien. Hätte der junge Priester geahnt, dass Oldrich ihn von seinem Platz am Fenster aus nicht einmal deutlich sehen konnte, nun, er hätte womöglich weniger Respekt gezeigt.
»Der Heilige Vater wünscht Euch jetzt zu empfangen, Eminenz.«
Oldrich von Prag verschränkte die Hände hinter dem Rücken, nickte abgehackt und eilte an dem Priester vorüber durch den Torbogen. Im Vorbeigehen erblickte er das Gesicht des Jungen – aus der Nähe sah er noch immer wie ein Luchs –, doch heute mochte nicht einmal die nackte Angst in den Augen des anderen ihn mit Zufriedenheit erfüllen.
Er eilte durch die hölzernen Korridore des Papstpalastes, vorüber an hohen Doppeltüren, kargen Gebetsnischen und Mönchen mit gesenkten Gesichtern. Es roch nach Alter in diesen Fluren und Sälen, nach jenem der Balken und Böden, aber auch nach menschlichem Verfall. Manchmal kamen Oldrich selbst die Ideen und Gedanken, die unter diesen Dächern ausgebrütet wurden, grau und vergreist vor. Er selbst war gewiss kein Erneuerer, ganz im Gegenteil, aber er hasste es, wenn Rost und Gries in den Gelenken des Glaubens spürbar wurden. Hier in Rom war die Last der Vergangenheit allgegenwärtig.
Innozenz erwartete ihn in einem seiner Audienzsäle. Der Heilige Vater hatte sein fünfzigstes Jahr erreicht, aber er sah so jung aus wie am Tag seines Amtsantritts. Als die Kardinäle ihn vor zwölf Jahren zum Papst gewählt hatten – Oldrich war damals noch Bischof gewesen –, war ihm von manchen der baldige Verlust seiner Ideale und Ziele vorausgesagt worden. Mit achtunddreißig hatte er die Kraft eines Streitrosses besessen, war voller Ehrgeiz und Durchsetzungsvermögen gewesen – und zum Erschrecken vieler hatte sich daran seither nichts geändert.
Der Papst nickte Oldrich zur Begrüßung zu, als der Kardinal den Saal betrat. Die hohen Wandteppiche mit Darstellungen der Genesis dämpften den Klang seiner Schritte auf dem Marmor. Niemand außer ihnen beiden war anwesend, auch die Wachen hatten den Raum verlassen müssen.
»Ihr seid zu vertrauensselig, Heiliger Vater«, sagte Oldrich, während er sich Innozenz näherte. »Keine Wächter? Die Attentäter stünden Schlange vor dem Tor, wenn Eure Gegner wüssten, wie leicht zu Euch vorzudringen ist.«
»Ich bin voller Hoffnung, dass Ihr es ihnen nicht verraten werdet, Kardinal.«
Der Papst stand zwischen zwei Spitzbogenfenstern, deren Farbkaskaden ihn und den Saal in verwirrendes Regenbogenlicht tauchten. Er trug ein schlichtes weißes Gewand mit rotem Ärmelbesatz, das durch ein Cingulum zusammengehalten wurde; darüber einen langen Umhang, dessen Saum sich am Boden wellte. Außerhalb offizieller Anlässe legte Innozenz nicht viel Wert auf die liturgische Kleiderordnung. Manche nahmen ihm selbst das übel.
Innozenz III. geboren als Lothar von Segni, stammte aus reichem Hause und stand in enger Verwandtschaft zur römischen Aristokratie. Manche behaupteten, das sei einer der Gründe, weshalb sich die Kardinäle entgegen der Tradition für einen so jungen Mann entschieden hatten. Er hatte in Paris Theologie studiert und in Bologna Kanonistik. Schon als Bischof hatte er sich für größtmögliche päpstliche Autorität ausgesprochen, und so nahm es kein Wunder, dass er diese erst recht einforderte, nachdem man ihn zum Heiligen Vater gewählt hatte. Innozenz war womöglich der einflussreichste Papst, der je über das Heilige Grab gewacht hatte; ganz zweifellos war er einer der machtgierigsten.
Macht war für ihn wie für Oldrich eine der größten Versuchungen, und solange sie einander im Streben danach von Nutzen waren, stand nichts und niemand zwischen ihnen.
»Ich habe Eure Argumente sorgfältig erwogen und durchdacht«, sagte Innozenz.
Oldrich deutete eine Verbeugung an. »Ich habe keinen Zweifel, dass Ihr einen weisen Beschluss gefasst habt.«
Innozenz lächelte. Er hatte volle, fast mädchenhafte Lippen unter einem scharfkantigen Nasengrat. Seine Wangen waren eingefallen, die Knochen darüber wie gemeißelt. Dennoch neigte er zu einem Doppelkinn, das so gar nicht zum hageren Rest seiner Erscheinung passen mochte. Man konnte vieles über den Heiligen Vater sagen, aber gewiss würde keiner behaupten, Innozenz sei ein schöner Mann.
»Ich habe mich gegen Eure Ratschläge entschieden«, sagte er.
Der Kardinal verzog keine Miene. Darin war er geübt. Aber unter seinen Gewändern brach ihm der Schweiß aus, und er
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