Herrin der Lüge
worden war. Er wollte bei Sinnen sein, wenn die Gräfin erneut zu ihm kam. Doch nach drei Wochen im Dämmerlicht dieses Kerkerlochs, nie ganz sicher, ob er nun fror oder fieberte, nie ganz allein, weil er manchmal Stimmen hörte, die den früheren Insassen der Zelle gehören mochten – nach drei Wochen voller Ungewissheit, unbändigem Zorn und allmählicher Gleichgültigkeit fiel es schwer, sogar das Interesse an sich selbst aufrechtzuerhalten. Noch ein Monat, und ihm würde egal sein, ob er hier war oder anderswo, gefangen oder frei.
Und dann, mitten in der Nacht, wurde er plötzlich von Schreien und Kampfgetöse aus seiner Lethargie gerissen. Durch das winzige Fensterloch unter der Decke drang der Lärm eines Gefechts herein.
Ob das ein gutes Zeichen war oder ein schlechtes vermochte er nicht zu sagen. Er kannte Geschichten von Gefangenen, die nach der Eroberung einer Stadt oder Festung auf freien Fuß gesetzt worden waren. Weit häufiger allerdings waren die Erzählungen von Eroberern, die mit allen Insassen der Kerker und Gefängnisse kurzen Prozess gemacht hatten. Warum sich mit Verbrechern belasten, wenn man genug Mühe damit hatte, die eigenen Leute bei Laune und Futter zu halten?
Wie er es drehte und wendete, letztlich war ihm die Ruhe zuvor weit lieber gewesen. Sie hatte ihm Schlaf geschenkt, nachts wie auch tags, wie ein Hund, der sich in einer Ecke zusammenrollt und sein Leben verträumt. Die Schreie der Verletzten und Sterbenden hingegen ließen sich schwerlich ignorieren. Schlimmer noch, sie führten ihm einmal mehr die Ausweglosigkeit seines Schicksals vor Augen.
Irgendwann verebbte der Lärm. Das Klirren der Schwerter verklang.
Eine ganze Weile später knirschte die Sichtluke in der Mitte der Kerkertür. Faun blieb mit angezogenen Knien sitzen, hob das Gesicht und wischte sich mit schmutzigen Fingern über die Augen. Sein Kopf war nicht länger kahl rasiert, sein braunes Haar während der Gefangenschaft nachgewachsen. Jetzt war es schon länger als ein Fingerglied, seine Kopfhaut juckte und kratzte. Vielleicht hatte er Läuse.
Faun hatte die Worte der Gräfin nicht vergessen, darüber, dass er nichts als ein Köder war. Sie wollte Saga, nicht ihn. Nach fast drei Wochen – zwanzig Kerben im Holz der Tür – musste längst eine Entscheidung gefallen sein. Der Gedanke an Saga hatte ihn immer wieder gequält. Doch die Abstumpfung, mit der er seine eigene Zukunft betrachtete, hatte allmählich auch auf die Sorge um seine Zwillingsschwester abgefärbt. Bislang war er sich dessen nicht bewusst gewesen, doch der Kampflärm hatte ihn wachgerüttelt. Urplötzlich war die Furcht um Saga wieder da.
»Seid Ihr es, Gräfin?«, knurrte er dem hellen Rechteck in der Tür entgegen. »Verreckt und geht zum Teufel!«
Gemurmel vor der Tür. Dann ein leiser Schmerzensschrei und ein Fluch. Gleich darauf eine Stimme, die er kannte wie seine eigene.
»Faun!«
Sein Name und zugleich ein Aufschrei. Dann Gescharre und der Lärm eines Handgemenges. Ein Mann brüllte etwas, es klang wie »Gebissen!«.
In Windeseile war Faun an der Tür. »Saga!« Die dumpfe Gleichgültigkeit fiel auf einen Schlag von ihm ab. Ihm war schwindelig, urplötzlich auch ganz schlecht vor Sorge, aber sein Verstand war vollkommen klar. »Saga! Was tust du hier? Was haben sie dir getan?«
Jemand prallte gegen die Tür, ein Mann schrie auf. Eisen klirrte, als eine Klinge zu Boden schepperte. Faun hörte Saga fluchen und ächzen, während sie mit jemandem rang. Er presste das Gesicht an die Luke, sah im Schein der einzigen Fackel zwei Gestalten miteinander kämpfen, ein verschlungenes Knäuel aus Gliedern, dazwischen Sagas Kastanienhaar. Ihre Hände hatten sich in das Gesicht eines Soldaten verkrallt, nicht viel älter als sie selbst. Faun sah, wie der junge Mann in Panik mit der Faust ausholte und Saga in den Magen schlug. Ihre Finger lösten sich von ihm, aber eines seiner Augen blutete. Sie hatte es nicht ausgekratzt, aber offenbar fest genug dagegen gepresst, um ihn für einen Moment halb blind zu machen. Er taumelte zurück, die stöhnende Saga noch immer im Schlepptau, und fiel gegen die Mauer. Der zweite Soldat, der unterhalb der Tür gelegen hatte, rappelte sich gerade hoch und kam seinem Gefährten zu Hilfe. Er packte Saga an der Taille und riss sie kraftvoll nach hinten, fort von dem jüngeren Mann.
»Lass sie los!«, brüllte Faun durch die Luke und rüttelte an der Tür so fest er nur konnte. »Du sollst sie loslassen!« Der Mann
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