Herrin der Lüge
Tiessa ihm bei.
Und obwohl er am besten einschätzen konnte, in welche Gefahr sie sich begaben, nickte auch Zinder. An seinem eigenen Ziel hatte sich ebenfalls nichts geändert. Das hatte er oft genug gesagt, in den langen Tagen an Bord der Sturmhochzeit, während sie alle ihren Gedanken freien Lauf gelassen hatten.
Tiessa hatte viel über ihren verstorbenen Vater, König Philipp, gesprochen. Mit keinem Wort aber hatte sie die Hochzeit mit dem Kaiser erwähnt, wiewohl Faun wusste, dass ihr schlechtes Gewissen ihr zu schaffen machte. Als Zinder einmal, in einem ganz anderen Zusammenhang, den Bürgerkrieg und seine Schrecken erwähnt hatte, war Tiessa aschfahl geworden. Da hatte Faun realisiert, dass sie noch immer mit ihrem Schicksal haderte, dass sie nach wie vor grübelte, auch des Nachts, wenn es schien, als schliefe sie in seinen Armen, und doch in Wahrheit nur über ihre Verantwortung nachdachte, eine Verantwortung, an der viele andere zerbrochen wären. Wie sollte sie damit fertig werden? Es war ein Kreislauf von Befürchtungen, Ängsten und Schuldgefühlen, der immer wieder zum Anfang führen musste.
Faun ahnte das alles, und er hatte immer wieder versucht, mit ihr darüber zu sprechen. Aber obgleich sie sich in jenen Tagen näher kamen als jemals zuvor, wehrte sie all seine Versuche ab, Einfluss auf ihre Überlegungen zu nehmen.
Dass sie sich jetzt ohne Zögern bereit erklärte, die Reise zum Krak des Chevaliers fortzusetzen, beruhigte ihn ein wenig. Er wäre bis zum Ende der Welt gereist, wenn sie ihn begleitet hätte, und sogar noch darüber hinaus, wenn sie das nur von der Entscheidung abgelenkt hätte, die wie ein Mühlstein auf ihrem Gewissen lastete. Früher oder später, das wusste er, würde sie ihm mitteilen, wozu sie sich entschlossen hatte. Und nichts, das er dann sagen oder tun könnte, würde irgendetwas daran ändern.
Ich werde dies tun, würde sie sagen, oder jenes. Und davor hatte er entsetzliche Angst.
Als der Krak des Chevaliers aus dem öden Grenzland emporwuchs, raubte der Anblick ihnen allen den Atem. Monumentaler konnte keine Festung auf Gottes Erde sein, allmächtiger in ihrer ehernen Bauweise, gewaltiger und Respekt einflößender.
»Du liebe Güte«, raunte Tiessa, während sie neben Faun und Zinder über eine Hügelkuppe ritt, »sie ist so groß !«
»Das ist sie, bei Gott!«, flüsterte Zinder.
Auch Faun sprach leise, als wäre die gigantische Feste etwas Lebendiges, das jeder überflüssige Laut aus steinernem Schlaf aufwecken konnte.
Die Grenzfestung des Johanniterordens erhob sich auf einem Ausläufer des Alawitengebirges, einer dunkelgrauen Bergkette aus schroffem Basalt, zu deren Fuß eine gewellte Ebene lag. Der Krak des Chevaliers überschaute das Tiefland von einem Berg mit abgeflachter Spitze. Von seinen Zinnen aus musste die Sicht bis weit in die Seldschukengebiete reichen. Es gab keine erkennbare Grenze, nur eine endlose Abfolge sanfter Hügel, Woge um Woge aus Sand, Fels und Basaltstaub, die ebenso dunkel waren wie das bedrückende Gebirge. Die Vorstellung, noch tiefer in diese trostlosen Weiten reiten zu müssen, senkte ihre Stimmung und saugte jede Freude aus ihrer Erleichterung über die Ankunft am Krak. Das Land, das sich vor ihnen gen Osten erstreckte, war so grau und düster und eintönig, dass es ihnen für eine Weile gänzlich die Sprache verschlug.
Die Johanniterburg war nicht aus Basalt errichtet worden, sondern aus hellem Kalkstein, der sich knochenfarben von der düsteren Umgebung abhob. Trotz seiner weißen Mauern erschien der Krak des Chevaliers keineswegs licht und einladend. Vielmehr wirkte seine mächtige Silhouette weitaus einschüchternder als Margat. Es gab ein paar Hütten am Fuß seiner Mauern, aber es waren so wenige, dass man sich unwillkürlich fragte, wen oder was diese Festung eigentlich bewachte. Etwa dieses unwirtliche Ödland, das sich vom Fuß des Gebirges bis zum Horizont erstreckte? Wer sollte ein Interesse haben, dafür zu kämpfen? Opferten Männer allen Ernstes ihr Leben für diese verlorenen Hügel und Senken, wo nicht einmal der Sonnenschein Fuß fassen wollte, geschweige denn menschliche Siedlungen?
Bäume waren nirgends zu sehen, nur borstiges, halb verdorrtes Gras und niedrige Büsche, die kaum diese Bezeichnung verdienten.
Die Festung selbst war mehr als zweihundert Schritt breit und, wie die drei Reiter beim Näherkommen feststellten, an die hundertfünfzig tief. Sie bestand aus einer eindrucksvollen Ummauerung mit
Weitere Kostenlose Bücher