Herrin der Lüge
Flöte entglitt fast ihren Fingern. Aber dann hielt sie das Instrument fest, so kräftig, dass es zwischen ihren Fingern zu zerbrechen drohte. Die Melodie hallte noch immer in ihrem Schädel nach, nicht mehr ihre eigene, sondern ein Echo jener Musik, die ihre Mutter oft gespielt hatte. Und mit ihr kehrte alles wieder, jedes Gefühl, jede Erinnerung, der furchtbare Schmerz, als Violante ihr Faun genommen hatte und sie gefürchtet hatte, es wäre für immer.
Dann war er endlich bei ihr, zog sie zwischen den Zinnen hervor, während er sie zugleich umarmte und Worte stammelte, die irgendwie an ihr vorüberwehten, denn Worte waren nicht wichtig, nichts war wichtig, nur dass sie ihn wiederhatte. Sie klammerten sich aneinander, weinten und lachten zugleich, während die halb vergessene Melodie aus ihrer Erinnerung sie wie ein Kokon umschloss und alles andere aussperrte.
Nur er und ich, dachte sie. Geschwister. Zwillinge.
»Wo warst du nur?«, flüsterte sie tränenerstickt. »Wo bist du nur die ganze Zeit gewesen?«
»Niemals weit weg«, sagte er leise.
»Ich dachte, ich hätte dich verloren.«
Er redete darauf los, etwas von Schiffen auf dem Meer, von Sklavenmärkten und allerlei anderen Dingen, aber sie sah dabei nur in seine Augen, die ihren eigenen so ähnlich waren, auch wenn sie äußerlich sonst kaum Gemeinsamkeiten hatten.
Er hob eine Hand, als wollte er die Narbe auf ihrer Wange berühren, verharrte aber ein kurzes Stück davor. Saga selbst hatte sie fast vergessen, seit nicht nur die verheilte Wunde, sondern auch jeder andere Fingerbreit ihres Körpers wehzutun schien. Schmerz war ein vertrauter Begleiter geworden, ein enger Freund von Entbehrung und Hitze und entsetzlicher Müdigkeit. Seit fast vier Tagen waren sie jetzt auf dem Krak des Chevaliers und warteten auf die Rückkehr einer Patrouille aus den Seldschukenländern, doch trotz der Ruhe, die sie hier gefunden hatten, wollte Sagas Erschöpfung nicht weichen.
Selbst jetzt nicht, da sie und Faun einander gegenüberkauerten, jeder in der Umarmung des anderen. Alles hätte gut sein müssen in diesem Moment. So vieles vergessen, so vieles getilgt.
Aber nichts war gut, irgendwie, und sie verstand nicht, warum.
Oder, doch, das eine.
Sie hatte ihn wieder. Und ging es nicht gerade darum? Wie hatte sie das aus den Augen verlieren können? Ja, wie – und selbst jetzt noch, in diesem Moment?
Sie umarmte ihn fester. Sie würde ihn nie wieder loslassen.
»Wir gehen nach Hause«, flüsterte er an ihrem Ohr. »Zusammen nach Hause, ja?«
Sie zögerte mit einer Antwort, schloss die Augen und atmete tief ein.
»Nein«, sagte sie dann, »ich kann nicht nach Hause gehen. Noch nicht.«
»Du willst bei ihr bleiben?« Er sah sie an, brachte aber nicht mal ein Kopfschütteln zustande. »Um Gahmuret zu finden?«
Saga nickte.
Er holte tief Luft. Ein Teil von ihm weigerte sich zu glauben, was er da hörte. Er hob den Blick. »Dann gehe ich mit dir«, sagte er. »Egal, wohin du noch gehst und mit wem und aus welchem Grund – ich gehe mit dir. Ich lasse dich nicht mehr allein.«
Als sie die Treppe hinabstiegen, sahen Faun und Saga, dass . Zinder bei Violante stand. Beide redeten heftig aufeinander ein. Tiessa seufzte erleichtert, als sie Faun entdeckte, zuckte hilflos die Achseln und eilte auf ihn und Saga zu.
»Zinder?«, entfuhr es Saga. »Wie kommt er hierher?«
»Mit uns«, sagte Faun. »Wir haben ihn mitgebracht.«
Tiessa blieb vor ihnen stehen. »Oder er uns. Eher er uns.« Sie schenkte Saga ein Lächeln. »Ich bin« – ein ganz kurzes Zögern, ein absichernder Blick zu Faun – »Tiessa.«
Saga lächelte zurück. »Ich bin Saga. Ihr müsst mir alles erzählen. Aber erst …« Sie sah zu Faun, dann kurz zu Tiessa. »Ich würde gern Zinder begrüßen.«
Tiessa schaute zu Violante und dem Söldner hinüber. Die Johanniter hatten sich kopfschüttelnd zurückgezogen, augenscheinlich froh, dass die Gräfin ein anderes Opfer für ihre streitbare Laune gefunden hatte.
»Kein guter Moment«, sagte Tiessa. Aber Saga war schon unterwegs.
»Warum hört hier niemand auf das, was ich sage?«, fragte Tiessa leise.
Faun nahm sie übermütig in den Arm und küsste sie. Nach einem Augenblick hielt er inne und betrachtete sie prüfend. »Du hast doch nicht gedacht, dass sich durch sie irgendetwas ändert, oder?«
Tiessa sah ertappt und erleichtert zugleich aus, und sie gab ihm eilig noch einen Kuss. »Nein«, sagte sie, »natürlich nicht.«
Seine Erschöpfung war im
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