Herrin der Lüge
sich gesehen, wenn er an sie gedacht hatte, denn so war sie ihm zum ersten und einzigen Mal vor seiner Kerkertür auf Burg Lerch gegenübergetreten. Damals war ihr Haar kunstvoll hochgesteckt gewesen.
Jetzt aber trug sie weite Leinenhosen wie ein Mann, ein langes Wams, eng um ihre schmale Taille gegürtet, und darüber einen weißen Überwurf gegen die Wüsten sonne. Ihr langes Haar war mit ein paar Hornspießen zu einem nachlässigen Knoten verschlungen. Die Bräunung ihrer Haut nach den langen Wochen auf See brachte die Schnabelhiebnarbe unter ihrem Auge noch stärker zur Geltung. Am Kinn war ein weiterer Schmiss hinzugekommen; er sah aus wie eine Wunde, die eine Klinge geschlagen hatte und die erst kürzlich schlecht verheilt war.
Sie stand inmitten einer Gruppe von schwarz gewandeten Ordensrittern und debattierte aufgeregt mit einem von ihnen.
»Violante«, flüsterte Faun, stand aber wie festgewachsen da und konnte sie nur anstarren, ohne dass sie ihn in ihrem erregten Streit mit dem Johanniter bemerkte. Er fragte sich, wo all der Hass geblieben war, den er für sie empfunden hatte. Er suchte danach in seinem Inneren, aber da war nur verwirrende Leere, jetzt da er sie vor sich sah. Er verstand es nicht und war doch froh darüber. Er wollte keine Zeit mit ihr verschwenden. Nicht einmal dazu war sie im Augenblick wichtig genug.
Auch Zinder hatte die Gräfin entdeckt. Er schnappte nach Luft, ließ die Zügel seines Pferdes los und wollte auf sie zugehen, doch Tiessa hielt ihn am Arm zurück.
Das Flötenspiel wechselte zu einer neuen Melodie, so melancholisch wie die erste.
Faun schaute sich abermals um. Sein Blick strich über die hohen Mauern des Innenhofs, weißgraue Kalksteinblöcke, in deren Fugen sich dunkler Sand abgelagert hatte. Er war drauf und dran, zum offenen Eingang des Palas hinüberzugehen, als ihm bewusst wurde, dass die Musik von oben kam.
Sein Blick suchte den Wehrgang über dem Tor, durch das sie die Kernburg betreten hatten. Aber die Wand war zu hoch, und Faun stand zu nah an ihrem Fuß, um irgendwen dort oben sehen zu können.
Sanft nahm er Tiessas Hand und reichte ihr die Zügel seines Pferdes. Der Anführer der Eskorte nickte ihm zu.
Faun ging los, erst zögernd, dann immer schneller, bis er eine gemauerte Treppe zum Wehrgang erreichte. Mit jedem Schritt nahm er mehrere Stufen. Die Melodie begleitete ihn, hallte samtig von den Wänden des Innenhofs wider und wurde schlagartig leiser, als er das Ende der Treppe erreichte und auf den offenen Wehrgang trat.
Eine schmale Gestalt saß in einiger Entfernung zwischen den Zinnen, mit angezogenen Knien, eingezwängt zwischen zwei Steinquadern. Sie wandte ihm den Rücken zu und war ganz in ihr Flötenspiel vertieft. Ihr kastanienbraunes Haar wurde vom Wind aufgewirbelt und tanzte fast waagerecht auf den heißen Böen.
Faun blieb stehen und atmete tief durch. Dann ging er langsam auf sie zu. Ein Ritter mit aufgepflanzter Lanze warf ihm einen mürrischen Blick zu, aber er hielt ihn nicht auf.
Fünf Schritt vor Saga verharrte Faun erneut. Seine Augen brannten. Mit dem Handrücken wischte er sich ungeduldig Tränen von der Wange. Ihre Mutter hatte diese Melodie manchmal für sie gespielt, als sie beide noch sehr klein gewesen waren.
Der Moment dehnte sich zur Ewigkeit, während er dastand, unfähig, die letzten paar Schritte zu tun und sie an der Schulter zu berühren. Sie anzusprechen. Oder einfach um sie herumzugehen und ihr ins Gesicht zu blicken. All die Wochen für diesen einen Augenblick. Wie Gedanken eines Sterbenden spulten sich in seinem Geist Bilder und Szenen der Reise ab, ein Flimmern von Eindrücken und Gefühlen, von Schmerz und Wut und Leidenschaft.
Er hatte sie vermisst. Erst jetzt wurde ihm klar, wie sehr er sie vermisst hatte.
»Saga?« Seine Stimme bebte. Er sprach ganz leise, und ihr Name ging im Spiel der Flöte unter.
»Saga!«
Sie hob den Kopf ein wenig, das Instrument noch immer an den Lippen. Die Melodie erklang noch einige Herzschläge länger, dann brach sie ab. Die Flöte wurde zögernd gesenkt. Die gebräunten schmalen Hände, die er so gut wie seine eigenen kannte, zitterten.
Die Zeit gerann zu honigzähem Nebel.
Langsam wandte Saga sich zu ihm um. Etwas war mit ihrem Gesicht, eine furchtbare Narbe auf ihrer linken Wange, aber Faun sah kaum hin. Blickte nur in ihre Augen. Genau wie sie in die seinen.
Sie war froh, dass sie so sicher zwischen den Zinnen verkeilt saß. Ihr Atem war wie abgeschnürt, die
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