Herrin der Lüge
»Sie haben ihn vor ein paar Tagen gesehen.«
»Keine Sorge.« Saga atmete tief durch. »Er wird Euch hereinlassen.«
Violantes Augenbrauen rückten näher zusammen. Sie schwieg für ein paar Herzschläge, dann flüsterte sie: »Du, Saga? Du willst es versuchen?«
Saga nickte. »Kommt der Torwächter auf die Zinnen, wenn Ihr ihn ruft?«
»Zweimal, bisher.«
»Versucht es noch einmal.«
Violante musterte sie. »Was willst du ihm sagen?«
»Das überlege ich mir, wenn es so weit ist.« Der Lügengeist wird es wissen, dachte sie. Er wird sich etwas einfallen lassen. Wie zur Antwort rumorte er tief in ihr, streckte und dehnte sich wie nach langem Schlaf, schrie stumm: Hier bin ich! Lass mich für dich lügen! Keiner lügt wie ich!
Karmesin deutete mit einem Nicken zum Wehrgang. »Tut, was sie verlangt. Ruft den Mann her.«
Violante straffte sich und wandte das Gesicht zu den Zinnen. »Torwächter! Komm heraus! Ich habe dir etwas zu sagen!« Sie versuchte es ein zweites und drittes Mal, doch erst, als sie schon aufgeben wollte, erschien eine Gestalt auf dem Wehrgang und blickte zu ihnen herab. Saga konnte das Gesicht des Mannes nicht erkennen, es war zu dunkel.
»Was?«, bellte er herab. »Wer ist da bei Euch?«
»Wir bringen Euch Hilfe!«, rief Saga, stockte und wiederholte es dann mit der Stimme des Lügengeistes. Umgehend wurde ihr schlecht. »Wir bringen Hilfe! Wir können euch retten! Keiner von euch muss mehr sterben!«
Karmesin warf ihr einen zweifelnden Seitenblick zu. Das war eine so offensichtliche Lüge, dass niemand bei klarem Verstand daran glauben konnte. Aber sie verstand nicht, um was es beim Einsatz des Lügengeistes tatsächlich ging: nicht um Glaubwürdigkeit nach Maßstäben des gesunden Menschenverstands. Menschen in Not waren bereit, jedermann zu trauen, solange er ihnen nur einen Ausweg aus ihrer Misere verhieß.
»Wer bist du?«, fragte der Torwächter. Unsicherheit sprach aus seinem Tonfall, aber keine offene Ablehnung mehr.
»Ich bin die Magdalena. Ich kenne den Weg aus dieser Einöde. Ich werde euch retten. Keinem wird mehr ein Leid geschehen.«
Der Wächter schwieg, starrte sie nur an.
Brechreiz schüttelte Saga, aber sie hielt sich mühevoll aufrecht. Sie hatte beinahe vergessen, wie schlimm es war, den Lügengeist heraufzubeschwören. Sie fühlte sich furchtbar dabei, schuldig und niederträchtig – und zugleich voller Triumph.
»Ihr alle werdet leben!«, rief sie erneut. »Ich bin der Schlüssel zu eurer Rettung. Graf Gahmuret wird dir dankbar sein, wenn du derjenige bist, der mich vor ihn treten lässt. Mich und Gräfin Violante.«
»Er hat mir verboten, die Gräfin einzulassen.«
»Er hat sich geirrt. Er wusste nicht, dass wir euch die Rettung bringen, als er dir diesen Befehl gab. Du wirst als freier Mann von hier fortgehen. Du und alle anderen.«
Das Triumphgefühl wurde zu einer überkochenden Euphorie, die gegen ihre Übelkeit ankämpfte und für kurze Zeit die Oberhand gewann. Der Lügengeist überrannte ihre Abwehr, spülte über jeden Anflug von schlechtem Gewissen hinweg, gaukelte sogar ihr selbst etwas vor: dass es richtig war, diesen Mann zu belügen und seine Verzweiflung und Angst für ihre Zwecke auszunutzen. Richtig, ihn zu demütigen, wie sie es früher so oft mit anderen Menschen getan hatte. Der Lügengeist flüsterte und wisperte in ihr, forderte sie auf, diesen Wurm dort oben mit ihren Lügen zu blenden, ihn einzulullen in ihr Netz aus Versprechungen.
Das ist deine Bestimmung, raunte der Lügengeist in ihr. Dazu bist du gemacht. Verbreite die Macht der Lüge. Säe Falschheit unter den Menschen. Zeig ihnen, was du vermagst!
Saga bemerkte die verwunderten Blicke, die Karmesin ihr zuwarf. Aber sie tat nur, wozu sie hergekommen war. Was sie am besten konnte.
Und sie hatte Erfolg damit.
Der Torwächter verschwand von den Zinnen, und gleich darauf hörten sie Stimmen auf der anderen Seite des Tors. Befehle wurden gerufen, Widerworte niedergebrüllt. Riegel knirschten und polterten. Ketten kreischten auf den Stacheln mächtiger Zahnräder.
Der linke Torflügel schwang zwei Schritt weit nach innen. Dahinter waberten in schummrigem Wechsel Schatten und Fackellicht. Die Silhouette des Torwächters winkte sie herein, ohne selbst ins Freie zu treten.
»Kommt herein«, rief er. »Beeilt euch!«
Violante schenkte Saga einen nervösen Blick und trat als Erste durch den Spalt; sie bebte vor Aufregung. Karmesin ergriff Saga am Arm, als diese unter ihrer
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