Herrin der Lüge
Lügengeist nie wieder einzusetzen. Und dass sie ihn fürchtete – vielleicht mehr als irgendetwas anderes auf dieser furchtbaren Reise ins Heilige Land. Und nun wollte sie ihren Schwur ausgerechnet für Violante brechen?
»Es wäre endlich zu Ende«, sagte sie, weil sie ihm ansah, was er dachte. »Eine allerletzte Lüge. Das wäre es wert.«
»Aber es ist zu Ende«, sagte er. »Hier und jetzt.« »Nicht für Violante.«
»Aber für dich. Für uns alle hier.«
Sie sah zu der einsamen Gestalt vor dem Burgtor hinauf und schüttelte langsam den Kopf.
Saga und Karmesin gingen langsam an den Reihen angespitzter Pflöcke vorbei, in deren Dickicht Pferdekadaver verfaulten. Fliegenschwärme surrten unter verkrustetem Fell. Der Gestank war süßlich und schwer, das Geknister schlüpfender Insekten Ekel erregend. Aus der Ebene wehte Wind herauf, aber nicht stark genug, um den Odem vergangener Schlachten zu vertreiben. Saga kämpfte während des ganzen Weges mit ihrem revoltierenden Magen.
Sie hatten die halbe Strecke bergauf zurückgelegt, als Saga noch einmal über die Schulter zum Belagerungsring der Seldschuken blickte. Die Sonne war jetzt vollständig hinter dem Horizont verschwunden, der Himmel zu einer düsteren Mischung aus Dunkelrot, Violett und dem anrückenden Schwarz der Nacht verlaufen. Sie konnte Faun und die anderen kaum noch erkennen, schwarze Striche zwischen vielen anderen. Zahlreiche Seldschuken hatten ihre Lagerfeuer verlassen und sich am Rand der Zeltstadt versammelt. Manche spotteten und scherzten, doch die meisten starrten wortlos mit düsteren Zügen hinter Saga und Karmesin her.
Die Konkubine trug ihren langen Stilettdolch am Gürtel, außerdem ein Kurzschwert, das Dürffenthal ihr aufgedrängt hatte. Saga war unbewaffnet. Es war bedeutungslos, ob sie eine Klinge besaß oder nicht. Sobald sie mit Violante durch dieses Tor trat, waren sie Gahmurets Männern ausgeliefert.
Sorgenvoll spürte sie dem Pulsieren und Zappeln des Lügengeists in ihrem Inneren nach. Oder war das ihr Herzschlag? Nein, er war da. Ganz sicher. Und er gierte danach, einmal mehr für sie zu lügen.
»Violante«, rief Karmesin zum Tor hinauf.
Die Gräfin war im Dämmerlicht kaum mehr zu sehen, ein Schemen vor dem dunklen Hintergrund des Festungsportals. Aus der Nähe erkannten sie, dass auch hier alles mit Spuren der erbitterten Kämpfe übersät war. Die Seldschuken hatten den Belagerten nicht gestattet, ihre Toten zu bergen; vielleicht hatte Gahmuret sie auch gar nicht im Inneren der Burg haben wollen. Überall lagen verdreht, verrenkt, verschlungen die Überreste ihrer Leichen. Karmesin rief erneut den Namen der Gräfin.
»Was wollt ihr?« Nach den Stunden in der trockenen Hitze klang Violante erschreckend heiser.
Saga schwenkte einen Lederschlauch. »Wir haben Euch Wasser mitgebracht.«
»Ich gehe nicht mit zurück, falls ihr deshalb gekommen seid.«
» Als hätten wir das angenommen«, flüsterte Karmesin.
»Warum lassen sie Euch nicht ein?«, fragte Saga.
Violante sah an ihnen vorbei zum Ring der Lagerfeuer. Zelte und Menschen waren mit dem Dunkel der Landschaft verschmolzen. »Seid ihr allein?«, fragte sie.
»Zinder wollte mitkommen, aber die Seldschuken haben es nicht erlaubt.«
»Gott sei Dank.«
»Er macht sich Sorgen. Wir alle machen uns Sorgen.«
Die Gräfin lachte bitter auf. »Seid ihr hier, um mir das zu sagen?«
Saga streckte ihr den geöffneten Wasserschlauch entgegen. »Trinkt! Sonst wird es bald keine Rolle mehr spielen, warum wir hier sind.«
Violante setzte den Trunk an die Lippen.
»Nicht zu schnell«, warnte Karmesin.
»Sie weigern sich, das Tor zu öffnen«, sagte Violante zwischen zwei Schlucken, bevor sie den Schlauch absetzte, verschloss und an ihrem Gürtel befestigte.
»Was soll das?«, wunderte sich Saga. »Die Seldschuken könnten niemals schnell genug hier oben sein, um das Tor zu stürmen.«
»Um sie geht es auch gar nicht.«
»Um was dann?«, fragte Karmesin.
»Sie sagen es mir nicht. Hin und wieder erscheint der Torwächter und schaut nach, ob ich noch hier bin. Dann hört er sich an, was ich zu sagen habe, zuckt die Schultern und verschwindet wieder.«
»Sonst nichts?«, fragte Saga verwundert.
Violante schüttelte den Kopf.
»Habt Ihr mit Gahmuret gesprochen?«, erkundigte sich Karmesin.
»Kein Wort. Er zeigt sich nicht.« Sie senkte ihre Stimme. »Ich habe mich gefragt, ob er noch am Leben ist.«
»Die Seldschuken behaupten, dass er lebt«, sagte die Konkubine.
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