Herrin der Lüge
Wahrheit sagen kann, aber er hört mir trotzdem zu. Nizamalmulk ist ein kluger Mann. Und er kann zwischen den Zeilen lesen.«
»Warum redet Ihr dann überhaupt mit ihm?«
»Soll ich ihm vielleicht etwas ausschlagen? In unserer Lage? Wir sind seine Gäste, aber es ist kein großer Weg vom Gast zur Geisel. Nicht hier draußen.«
Faun schluckte.
»Schön und gut«, fiel Tiessa ungeduldig ein. »Aber was ist mit ihr?« Sie deutete hinauf zu der winzigen Gestalt vor dem Tor. Je tiefer die Sonne sank, desto mehr verschmolz Violante mit dem riesigen Portal.
»Ist irgendetwas passiert, während ich weg war?«, fragte der Johanniter.
Saga schüttelte den Kopf. »Nichts.«
»Hat sie mit jemandem gesprochen?«
»Nur ganz zu Anfang mit einem Mann auf den Zinnen. Jetzt steht sie einfach nur noch da und wartet.«
»Gahmuret hält dieser Belagerung seit vielen Monaten stand«, sagte der Ritter. »Wenn er eines hat, dann Ausdauer. Sein Weib scheint ihm sehr ähnlich zu sein.«
»Seht!«, entfuhr es Faun. »Jetzt ist wieder jemand da. Oben, über dem Tor.«
Sie alle verengten die Augen, in der Hoffnung, Genaueres erkennen zu können. Aber die Entfernung war zu groß, und das Licht wurde immer schwächer.
»Ist das derselbe Mann wie heute Nachmittag?«, fragte Dürftenthal.
»Ich glaube schon«, sagte Tiessa.
Saga trat nachdenklich ein paar Schritte vor, als wäre die Sicht von dort aus besser. »Gahmuret?«
»Möglich.« Dürffenthal blinzelte ins rote Abendlicht. »Aber eher noch einer seiner Männer.«
Sie drehte sich mit einem Ruck zu ihm um. »Ihr glaubt, er redet nicht einmal mit ihr?«
Der Ritter hob die Schultern. Er trug Kettenhemd und Waffenrock, hatte aber die Kapuze aus Eisengliedern zurückgeschlagen. Obwohl es allmählich kühler wurde, hatte der Felsboden genug von der Hitze des Tages aufgesogen, um weiterhin Wärme abzugeben. Sie alle schwitzten noch immer. Faun trat neben Saga und bemühte sich gleichfalls, Einzelheiten auszumachen. Die Berghänge hatten sich im Schein des Sonnenuntergangs verfärbt; es sah aus, als wäre das Blut all jener, die im Kampf um die Burg gefallen waren, wieder aus Sand und Gestein aufgestiegen und breitete sich jetzt über die trostlose Landschaft aus.
»Wir müssen irgendwas tun«, sagte Karmesin.
»Wir?« Faun stieß ein bitteres Lachen aus. »Seht sie euch an … Ich meine, sie hat den Verstand verloren.«
Karmesin hörte nicht auf ihn. »Saga?«
»Was sollte ich wohl tun?«
Karmesin lächelte. »Weißt du das wirklich nicht?«
Faun schüttelte fassungslos den Kopf. »Meine Schwester wird nicht dort hinaufgehen!«
»Deine Schwester wird tun, was sie für richtig hält«, entgegnete Karmesin.
Alle starrten wieder hinauf zur Festung. Der Mann auf den Zinnen hatte sich vorgebeugt, während er mit Violante sprach. Sie regte sich noch immer keinen Fußbreit von der Stelle, an der sie seit Stunden ausharrte.
Saga wandte sich an Dürffenthal. »Werden die Seldschuken zulassen, dass ich dort raufgehe?«
»Ich komme mit«, sagte Karmesin, bevor der Johanniter antworten konnte. »Irgendjemand muss auf dich aufpassen. Ich werde nicht zulassen, dass du ohne mich gehst, Saga. Egal, was die Seldschuken sagen.«
»Sie werden nichts dagegen haben«, sagte der Ritter. »Solange es nur Frauen sind.«
»Nur Frauen?«, stieß Zinder aus. »Das ist nicht Euer Ernst!«
Dürffenthal holte tief Luft. »Wenn der nächste Angriff beginnt, ist jeder Mann dort oben eine Gefahr für ihre eigenen Leute.«
Faun schaute sich im Lager um. Es war erstaunlich ruhig zwischen den Zelten geworden. »Für mich sieht das nicht aus, als stünde ein Angriff bevor. Weder heute noch morgen, noch irgendwann.«
»Ich weiß.« Dürffenthal stieß ein leises Schnauben aus. »Nizamalmulk schweigt dazu. Wie zu allen Fragen, die ich ihm stelle.«
»Euer Abkommen scheint nicht allzu viel wert zu sein.«
»Wäre unser Abkommen nichts wert, mein Junge, dann wären wir alle längst tot.«
Tiessa schob sich an Fauns Seite und nahm seine Hand in die ihre. Sie sagte nichts, aber ihre Nähe besänftigte ihn ein wenig.
»Saga«, flehte er seine Schwester an, »tu das nicht. Das da oben sind Mörder und Vergewaltiger. Schlimmer noch als Achards Bande auf Hoch Rialt.«
»Aber ich bin die Einzige, die sie dazu bringen kann, Violante in die Burg zu lassen«, erwiderte sie. »Der Torwächter wird mir glauben, wenn ich es will.«
Noch auf dem Weg hierher hatte sie Faun erzählt, dass sie sich geschworen hatte, den
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