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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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brandete das Geschrei der Aussätzigen zu einem grauenvollen Heulen auf, ehe es sich in einem Gewirr aus Stimmen verlor.
    Statt den Hang hinabzulaufen, eilten sie am Fuß der Mauer geduckt in jene Richtung, die sie vom Portal der Festung fortführte.
    »Die Seldschuken werden als Ring vorrücken, der sich um die Festung zusammenzieht«, sagte Karmesin.
    Befehle und Rufe wehten aus dem Lager den Hügel herauf. Saga kniff die Augen zusammen und spähte ins Dunkel. Die Reihe aus Lichtpunkten am Fuß der Hänge wurde dichter, neue Fackeln brannten zwischen den Feuern. Sie kamen näher.
    »Hier entlang.« Karmesin deutete mit einem Nicken den Hügel hinab.
    »Du willst ihnen entgegengehen?«
    Karmesin nickte stumm. Mit dem erbeuteten Schwert wedelte sie in Sagas Richtung.
    Saga hastete los. Panik beherrschte sie, während sie rannte, aber dann kehrte ein Teil ihrer Vernunft zurück. Abrupt blieb sie stehen, inmitten alter Gerippe und Rüstungsteile. Ein Blick zurück zeigte ihr, dass Karmesin ihr folgte, schneller als sie selbst, und jeden Moment aufholen würde. Zugleich ertönte ein Ruf. Fackelträger, schon ganz nah!
    Karmesin blieb stehen. »Lauf ein Stück weiter, dann leg dich hin und rühr dich nicht.« Sie wartete nicht auf Sagas Reaktion, hob das schartige Krummschwert eines Toten auf und ging den Kriegern entgegen.
    »Tu das nicht!«, rief Saga gepresst.
    »Ich habe gesagt, ich beschütze dich, und das war ernst gemeint.« Karmesin blieb auf halber Strecke stehen und sah noch einmal zu ihr herüber. »Wenn ich sie ablenke, kannst du vielleicht fliehen. Vielleicht auch nicht. Aber es ist die einzige Möglichkeit.«
    »Sie werden dich umbringen!«
    Die Konkubine lächelte. »Die Karmesin kann nicht sterben. Uns wird es ewig geben.«
    Sie spreizte beide Arme, warf den Kopf in den Nacken und rief etwas Lateinisches zum Nachthimmel empor. Stimmen wurden laut. Die Seldschuken hatten sie entdeckt. Karmesin schaute wieder nach vorn, packte das Schwert mit beiden Händen und stürmte auf die Krieger zu.
    Saga war drauf und dran, ihr zu folgen. Halbherzig schaute sie sich im Graben nach einer alten Klinge um, fand keine und brachte nicht einmal einen klaren Gedanken zustande. Schließlich traf sie ihre Entscheidung, ohne nachzudenken. Noch einmal atmete sie tief durch, dann lief sie hinter der Konkubine her.
    Bald sah sie den Ring aus Kriegern unmittelbar vor sich, keine zehn Schritt entfernt. Da war eine Lücke, wo mehrere Männer die Formation verlassen hatten, um einen Kreis um Karmesin zu bilden. Zwei trugen Bogen, die übrigen Schwerter und Lanzen. Die Schützen legten gerade Pfeile an ihre Sehnen, als Karmesin sich wortlos auf sie stürzte. Statt sich ihr zu stellen, sprangen die Männer zurück, aus Furcht, in Berührung mit ihr zu kommen. Sie hielten sie für eine der Aussätzigen, und das kam ihr jetzt zugute. Der erste Bogenschütze starb schreiend unter ihren Schwertstreichen. Auch der zweite kam nicht dazu, auf sie zu schießen: Karmesin rotierte in einer halben Drehung herum, noch während ihr erstes Opfer zusammenbrach, und drang mit zwei schnellen Hieben auf den Seldschuken ein. Die anderen zögerten, ihm zu Hilfe zu kommen, weil sie den direkten Kontakt mit ihr fürchteten. Jemand rief nach weiteren Schützen, und aus der Dunkelheit näherte sich sogleich ein halbes Dutzend.
    Saga brüllte Karmesins Namen. »Da kommen noch mehr!«
    Tatsächlich folgten den Fackelträgern weitere Trupps von Kriegern, alle mit Bogen bewaffnet – sie waren die eigentliche Streitmacht, die die Seldschuken gegen entflohene Aussätzige aufboten.
    »Was tust du hier?«, brüllte Karmesin, während sie Ausfälle gegen die Schwertkämpfer antäuschte. Die Männer wollten sie nur in Schach halten, nicht in Gefechte verwickeln. »Hau endlich ab!«
    »Ich lass dich nicht allein zurück!« »Das ist sehr nobel, aber auch sehr dumm.« Die Bogenschützen kamen näher. Alle hatten bereits im Gehen Pfeile an die Sehnen gelegt. »Lauf, Saga!«
    Die ersten Pfeilspitzen schwangen nun auch in Sagas Richtung.
    Sie konnte und wollte nicht mehr fliehen. Wohin auch? Mittlerweile wimmelte es auf dem Hang nur so von Kriegern, der ganze Festungshügel war mit Fackeln gesprenkelt. Oben an den Mauern ertönten Rufe, womöglich gaben die Seldschuken Entwarnung: Niemand sonst hatte versucht, aus der Burg zu entkommen.
    »Saga, du sollst laufen!«
    Aber sie schüttelte nur den Kopf und ging stattdessen auf Karmesin zu, durch den Kreis der

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