Herrin der Lüge
anderen lag eine halb geöffnete Tür.
Unter ihnen in der Halle wurden Stimmen laut. Gahmuret und Violante waren entdeckt worden.
Karmesin schlüpfte ins Freie. Als Saga ihr folgte, konnte sie von einer Balustrade hinab in den Innenhof der Festung blicken. Es war stockdunkel dort unten, das Mondlicht erreichte nur vereinzelte Stellen und warf Schattenraster auf Haufen aus geborstenem Mauerwerk. Der Menschenauflauf hatte sich aufgelöst, viele hatten sich in die Finsternis zurückgezogen.
Das Portal der ehemaligen Moschee stand offen. Stimmen drangen ins Freie, gequältes Wimmern und Schmerzensschreie. Die Laute weckten in Saga Erinnerungen an die Leiden des Bürgerkriegs, an Sterbende und Verstümmelte, die im Schlamm der stinkenden Schlachtfelder nach ihren Müttern schrien.
Sie rannten am Geländer entlang, als in ihrem Rücken mehrere Gestalten auf die Balustrade strömten, ein halbes Dutzend Aussätzige, bewaffnet mit Schwertern und Äxten. Die meisten von ihnen humpelten, aber selbst jene, die laufen konnten, waren nicht so schnell wie Saga und Karmesin.
Die beiden wechselten einen kurzen Blick, aber sie hielten in ihrem Lauf nicht inne. Über eine kurze Brücke, die einen Weg am Fuß der Festungsmauer überspannte, gelangten sie auf den Wehrgang. Wüstenwind fegte ihnen aus der Nacht entgegen. Jenseits der Zinnen erstreckten sich die öden Berghänge, dahinter der Ring aus Feuern des Seldschukenlagers. Es war finster hier oben, nirgends brannten Fackeln. Nicht einmal Wachen gab es. Allen war klar, dass es keinen Angriff mehr geben würde.
Etwas klapperte neben Saga gegen die Innenseite der Zinnen. Jemand hatte einen Pfeil aus dem Hof heraufgeschossen, obwohl sie im Dunkeln kaum auszumachen waren. Ein Lichterschwarm näherte sich dem Fuß der Mauer, eine Horde humpelnder Fackelträger.
Auch die anderen Männer waren ihnen weiterhin auf den Fersen. Sie stolperten über die Brücke, während Saga und Karmesin bereits dem Verlauf des Wehrgangs folgten.
Die Zinnen waren in katastrophalem Zustand. An mehreren Stellen hatten die Wurfgeschosse der feindlichen Katapulte den Wehrgang gestreift und Furchen hineingeschlagen. Ihre Flucht war ein stetes Auf und Ab über Trümmerhaufen, durch tiefe Kerben, einmal gar über einen schmalen Mauergrat, der unter ihren Füßen gefährlich bebte; immerhin würde er auch ihre Verfolger eine Weile lang aufhalten.
Vom Hof aus waren sie jetzt nicht mehr zu sehen, Ruinen verdeckten die Sicht. Aber der Aufruhr dort unten ließ nicht nach, heisere Stimmen brüllten durcheinander, und irgendwo begannen Klageweiber den Tod des Grafen zu beweinen.
Lügen. Es waren alles nur Lügen gewesen.
Immer wieder dieser Gedanke in Sagas Kopf, doch sie hatte keine Zeit, ihn zu fassen oder irgendetwas von dem zu begreifen, was hier geschah.
Karmesin deutete nach vorn. Mehrere Fackelträger hatten den Wehrgang am anderen Ende des Zinnenkranzes betreten. Sie versuchten, den beiden den Weg abzuschneiden.
Saga bekam vor Anstrengung kaum noch Luft. Und noch immer wollte sich etwas in ihr weigern, überhaupt zu atmen, mochte Karmesin noch so oft behaupten, dass sich der Aussatz nicht durch die Luft übertrug. Mittlerweile schien ihr alles hier ansteckend zu sein, sogar der bloße Gedanke an die Krankheit.
Zwischen ihnen und ihren Verfolgern lagen etwa zwanzig Schritt. Bis zu jenen, die ihnen entgegenkamen, mochte es doppelt so weit sein. Aber die Zange schloss sich mit jedem Augenblick ein wenig mehr.
Vor ihnen tat sich eine weitere Kerbe auf, wo ein Geschoss der Seldschuken in die Zinnen gekracht war. Sie hatten schon drei oder vier solcher Vertiefungen durchquert, doch diese hier unterschied sich von den vorangegangenen: Statt nach wenigen Schritten wieder bergauf zu führen, ging es im Finstern weiter nach unten, bald so steil, dass sie sich aneinander festhalten mussten.
Zuletzt sprangen sie. Stöhnend landeten sie am tiefsten Punkt der Bresche. Zu ihrer Überraschung befanden sie sich nur noch zwei Mannslängen über dem Boden. Links von ihnen lag der Hof in tiefen Schatten; von dort näherten sich Geschrei und schlurfende Schritte. Auf ihrer Rechten lag der offene Berghang.
Karmesin gab Saga einen Stoß. Sie sprang in die Tiefe, kam auf Händen und Knien im Staub auf, verlor für einen Augenblick das Gleichgewicht und schlitterte zur Seite. Als sie endlich Halt fand und geduckt auf den Felsen kauerte, landete Karmesin geschickt wie eine Katze neben ihr. Über ihnen und jenseits der Mauer
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