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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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oder?«
    »Sicher nicht, Herr.«
    »Dann tut, was ich sage.«
    »Ja, Herr.«
    Faun war wie betäubt. Die Worte klangen so weit entfernt, als beträfen sie ihn gar nicht.
    »Ich verurteile dich zum Tode«, verkündete der Junge und zeigte mit der blutigen Hand auf ihn. »Hoch mit ihm, in den Hof!«, befahl er den Soldaten. »Man soll ihm den Kopf abschlagen!«
    Faun hatte früher oft bei Hinrichtungen zugesehen, hatte in den vorderen Reihen gestanden und gebannt den Verurteilten angestarrt, wie er herbeigeführt, in die Knie gezwungen und mit der Wange auf den Richtblock gepresst wurde. Manche schrien wie am Spieß, andere starben ohne ein Wort. Das viele Blut und der offene Halsstumpf sahen nicht anders aus als bei einem geschlachteten Huhn, und Faun und Saga hatten sich manches Mal gefragt, ob der Enthauptete wohl noch ein paar Schritte im Kreis laufen mochte, wenn man ihn nur ließe.
    Für Kinder waren das wichtige Fragen gewesen, die sie stundenlang beschäftigt hatten. Später, als sie begriffen hatten, wie gefährlich das Leben für fahrende Spielleute sein konnte und wie eingeschränkt ihre eigenen Rechte waren, da war ihre Faszination allmählich in ahnungsvollen Ekel umgeschlagen. Sie hatten mit angesehen, wie schnell und schuldlos andere Gaukler die Grenze vom Rechtlosen zum Geächteten überschritten hatten.
    Die hohen Herren wurden nicht müde, neue Strafen zu ersinnen, und oft ließen sie sie mit einem Sinn fürs Spektakel zelebrieren, der den Wechsel eines Spielmanns von der Bühne auf den Richtblock fast unausweichlich erscheinen ließ.
    Dem Volk war es einerlei – die Hinrichtung eines Verurteilten unterhielt die Massen ebenso wie Sagas Tanz auf dem Seil. Erst Nervenkitzel, dann die Aussicht auf Blutvergießen. Saga sagte oft, dass ihr bester Auftritt der sein würde, bei dem sie zu Tode stürzte. Darüber würden die Leute noch monatelang reden.
    Nun stand Faun zwischen den beiden Soldaten im Hof und wartete auf seinen eigenen großen Auftritt. Ein Geräusch wie von einem rumpelnden Weinfass kam immer näher. Als er in die Richtung der Laute blickte, sah er, dass ein Knecht den runden Richtblock heranrollte. Eine Magd brachte von irgendwoher einen Korb. Als sie seinen Blick kreuzte, schlug sie hastig die Augen nieder.
    In den Türnischen des Hauptgebäudes drängten sich ein paar Mädchen. Einige Knechte hatten in ihrer Arbeit innegehalten. Oben auf den Zinnen blickten die Wächter über die Schulter hinab in den Hof. Die Neuigkeit machte eilig die Runde. Mit jeder Minute tauchte aus Ställen und Anbauten mehr Gesinde auf, um einen Blick auf den Verurteilten zu erhaschen.
    Der Grafensohn war nirgends zu sehen. Richtblock und Korb waren mittlerweile aufgebaut, doch Nikolaus von Lerch zeigte sich nicht.
    Faun stand mit weichen Knien zwischen den beiden Soldaten und starrte auf die gekerbte Oberfläche des Holzblocks. In den Furchen hatte sich getrocknetes Blut festgesetzt, schwarz angelaufen wie Schriftzeichen. Tausend Dinge gingen ihm durch den Kopf, Bilder flimmerten vorüber. Sätze, die irgendwann gesagt worden oder noch zu sagen waren. Gesichter vermischten sich mit Geräuschen, Erinnerung mit Einbildungskraft. Er stand vollkommen starr, und obgleich er wusste, was ihm bevorstand, drang die allerletzte Konsequenz erst schleichend zu ihm durch. Er würde Saga nie wiedersehen. Auch seine jüngeren Schwestern vermisste er. Ganz anders als seine Eltern. Seine Mutter hatte nie gegen den herrschsüchtigen Vater aufbegehrt, sie war immer ein Schatten im Hintergrund gewesen, selten tröstend, meist nur das nachplappernd, was ihr Mann von sich gab. Und seinen Vater sollte der Teufel holen! Wie hatte er Faun und Saga im Stich lassen können? Faun widerstrebte es, dass seine letzten Gedanken ausgerechnet ihm galten. Er musste sich zwingen, die Züge des Alten aus seiner Erinnerung zu verdrängen.
    Aus einer Nebentür des Palas trat jetzt der Grafensohn ins Freie. Er war in ein Gespräch mit einem älteren, schwergewichtigen Mann verstrickt. Faun erkannte den Burgvogt. Nikolaus mochte von Standes wegen den Oberbefehl über die Grafschaft haben, solange seine Mutter nicht anwesend war, aber der Vogt führte die alltäglichen Geschäfte. Eine Hinrichtung, die über seinen Kopf hinweg von einem Zehnjährigen angeordnet worden war, musste ihm zwangsläufig zuwider sein. Ganz abgesehen davon, dass damit gegen eine Anordnung der Gräfin verstoßen wurde.
    Für einen Augenblick schöpfte Faun neue Hoffnung. Der Vogt

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