Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
zeigte wenig Respekt vor dem Jungen. Vielmehr sah es danach aus, als hielte er dem Kleinen eine Standpauke. Das Raunen der versammelten Mägde, Knechte und Soldaten übertönte das Gespräch der beiden. Der Vogt gestikulierte wütend, während Nikolaus mit hängenden Schultern vor ihm stand, dem Blick des Älteren auswich und mit der linken Hand die bandagierte Rechte umklammerte.
    Auch die beiden Soldaten an Fauns Seite waren auf den Jungen und den Vogt aufmerksam geworden. Der eine unterdrückte ein Lächeln.
    Faun löste seinen Blick widerwillig von Nikolaus und dem Vogt. Dort drüben wurde gerade über sein Leben entschieden, aber gar so leicht gab er nicht auf. Er hatte nicht all die Wochen im Verlies ausgehalten, um nun wegen eines beleidigten kleinen Jungen zu sterben.
    Er stand nicht weit von der hinteren Burgmauer entfernt. Eine schmale Steintreppe ohne Geländer führte dort hinauf, gut zehn Schritt von ihm entfernt. Wenn seine Orientierung ihn nicht täuschte, gähnte hinter den Zinnen die Steilwand des Lerchberges. Auf der gegenüberliegenden Seite, außen vor dem Burgtor, fiel das Land viel seichter ab. Dort gab es einen Burggraben, der bis an den Fuß der Mauer reichte. Wie tief das Wasser war, wusste Faun nicht. Aber darüber konnte er sich später Sorgen machen.
    Mit einem raschen Blick zählte er die Wachtposten auf den Zinnen. Zu viele, das stand fest. Dennoch war die Mauer seine einzige Chance.
    Ein heftiges Schluchzen riss ihn aus seinen Überlegungen. Nikolaus von Lerch, Sohn des Gahmuret, stand trampelnd vor dem Burgvogt und trommelte mit beiden Fäusten auf den beachtlichen Wanst des Mannes ein. Der Vogt wich nicht zurück, stand vielmehr da, als spürte er die Schläge des Kleinen gar nicht. Seine Brauen waren zornig zusammengerückt. Noch immer redete er weiter, während der Grafensohn heulend auf ihn einschlug, ein trotziges, verwöhntes Kind, das versuchte, seinen Willen durchzusetzen.
    Faun atmete tief durch. Er konnte abwarten, bis eine Entscheidung fiel. Oder er konnte alles auf eine Karte setzen.
    Der Burgvogt wollte den Jungen an den Armen packen, doch Nikolaus riss sich los und prügelte weiter auf seinen Bauch ein. Die Mütze des Vogts verrutschte und fiel von seinem Kopf. Er hatte rotes, lockiges Haar, das sich am Hinterkopf lichtete. Auch alle anderen Menschen im Hof blickten jetzt in die Richtung dieses bemerkenswerten Schauspiels. Irgendetwas musste der Vogt unternehmen, sonst lief er vollends Gefahr, den Respekt seiner Untergebenen zu verlieren. Aber Nikolaus war noch immer der Sohn der Gräfin. Allzu heftiges Auftreten mochte nach Violantes Rückkehr Konsequenzen haben – und noch schlimmere, falls sie nicht zurückkehrte.
    »Ich – will – dass – er – stirbt!«, kreischte der Junge jetzt so laut, dass es in den hintersten Winkel des Burghofs schallte. Irgendwo wieherte ein Pferd. Eine Ziege, die von einem Knecht am Strick geführt wurde, blieb stehen und rührte sich nicht mehr.
    Jetzt!, dachte Faun.
    Aber er blieb noch einen Atemzug länger stehen, unsicher, ob die Situation wohl gerade zu seinen Gunsten umschlug. Was würde dann geschehen? Bestenfalls ließ ihn der Vogt zurück in den Kerker stecken.
    Das Heulen des Kleinen ebbte ab – und begann dann noch lauter von neuem. Der Verband seiner rechten Faust hatte sich rot gefärbt, durch die Schläge auf den Bauch des Vogts war die Wunde wieder aufgebrochen.
    Alle starrten das schreckliche Kind an.
    Niemand achtete mehr auf Faun.
    Er aber entdeckte derweil noch etwas anderes: Aus einer zweiten Tür des Hauptgebäudes kam ein Bediensteter und trug ehrfurchtsvoll einen langen Gegenstand, eingeschlagen in roten Samt. Ein Stoffzipfel löste sich und entblößte die Spitze einer breiten Klinge.
    Das Henkersschwert.
    Faun versuchte es mit einem zaghaften Schritt nach hinten. Keine Reaktion seiner beiden Bewacher. Sie verfolgten gespannt den Ausgang des Machtkampfs zwischen Kind und Burgvogt. Der dicke Mann versuchte erneut, die wirbelnden Fäuste des Kleinen zu schnappen, und diesmal bekam er eine zu fassen. Die zweite traf dafür ein Stück tiefer – und das gab den Ausschlag. Der Vogt holte aus und versetzte dem Jungen eine schallende Ohrfeige.
    Stille senkte sich über den Burghof. Alle standen da wie versteinert. Auch Nikolaus rührte sich nicht. Der Vogt stieß einen tiefen Schnaufer aus, dann ein Seufzen.
    Faun bekämpfte den Drang, einfach loszurennen. Stattdessen bewegte er sich langsam rückwärts, bemüht, nur ja

Weitere Kostenlose Bücher