Herrin der Lüge
fünf, sechs Schritten.
Unten im Hof tobte der Vogt, nun nicht mehr wegen der Blamage von vorhin, sondern weil augenscheinlich bereits die nächste im Gange war. Wenn der Gefangene die Soldaten dort oben noch länger zum Narren hielt, fiel ihr Versagen auch auf den Vogt zurück.
Der Wehrgang endete an der niedrigen Bogentür eines Wachturms. Faun tauchte in das kühle Dämmerlicht im Inneren ein, liebäugelte kurz mit der Treppe nach oben – hier hätte er sich besser verteidigen können – und schlug hinter sich die Tür zu. Der Riegel war rostig, ließ sich aber vorschieben. Außen polterten die Soldaten mit Fäusten und Stiefeln gegen das Holz, doch vorerst hielt die Tür ihnen stand. Rufe wurden laut. Die beiden Wächter vom Hof hatten die übrigen eingeholt.
Falls Faun vorhin richtig gezählt hatte, befand sich vor ihm jetzt nur noch ein einzelner Mann. Er bewachte die zum Graben gewandte Seite der Burg. Weitere mochten vom Hof aus unterwegs nach oben sein. Er musste sich beeilen.
Er gab dem Riegel einen weiteren Stoß, der ihn vollends einrasten ließ, wirbelte herum – und blickte in die Augen des letzten Wächters, der ihm durch die zweite Tür auf der anderen Seite bereits entgegengelaufen war. Sie befanden sich nun beide im Inneren des engen Turms. Vom Hof aus waren sie nicht zu sehen.
»Du hast Mut«, sagte der Soldat. Er war kein junger Mann mehr, das verriet seine Stimme. Im Gegenlicht des zweiten Ausganges konnte Faun sein Gesicht kaum ausmachen. Doch ob alt oder jung – er besaß enorm breite Schultern und wirkte selbst als Silhouette ungemein einschüchternd.
Fauns Keuchen füllte den schmalen Raum.
Der Soldat wog sein Schwert in der Hand, doch er griff nicht an. Stattdessen stand er abwartend vor der offenen Tür zum hinteren Wehrgang und lauschte auf die Flüche und Faustschläge der anderen Wächter.
Lachte er etwa?
»Dieser kleine Quälgeist dort unten kommt viel zu sehr nach seiner Mutter«, knurrte er plötzlich, »und davor bewahre uns Gott!«
Faun, der die Fäuste zur Verteidigung geballt hatte, stutzte.
»Verdammt.« Der Mann trat zur Seite und machte den Weg zum Wehrgang frei. »Ich werde dich wohl kaum dafür erschlagen, dass du es einem quengelnden Kind gezeigt hast!«
Fauns angehaltener Atem entwich in einem Seufzer. Trotzdem zögerte er noch. »Du lässt mich laufen?«, fragte er ungläubig.
»Wonach sieht es denn aus?«, fragte der Soldat. »In der Mitte ist das Wasser im Graben am tiefsten. Wenn du runterspringst, gib Acht, dich weit genug von der Mauer abzustoßen – an ihrem Fuß hat sich eine Menge Dreck angesammelt, in dem du lieber nicht landen willst.«
Jetzt konnte Faun auch sein Gesicht erkennen.
»An deiner Stelle würde ich mich beeilen. Ewig wird die verfluchte Tür nicht halten.«
Faun machte argwöhnisch ein, zwei Schritte an dem Mann vorbei.
»Bis zur Mitte, denk dran«, sagte der Soldat. Dann drehte er sich zur Tür um und legte eine Hand auf den Riegel. Das Rütteln auf der anderen Seite war verstummt.
»Warte noch«, bat Faun. »Meine Schwester … Weißt du, was aus ihr geworden ist?«
»Die Gräfin hat sie mitgenommen.«
»Wohin?«
»Auf ihre Reise nach Süden … Nach Mailand, sagen die Leute.«
»Was für ein Land ist das?«
»Eine Stadt, Dummkopf! In Italien.«
Italien! »Wo Kaiser Otto Krieg führt?«
»Mailand liegt im Norden. Der Kaiser kämpft unten im Süden.«
Abermals wurden vor der Tür die Stimmen laut.
»Schnell!« Der ältere Mann sah ihn jetzt nicht mehr an, sondern rüttelte an dem Riegel. »Er klemmt!«, rief er lautstark gegen das Holz. Und über die Schulter zischte er. »Verschwinde jetzt! Sofort!«
Faun rannte los. Unten im Hof herrschte helle Aufregung. Als er aus dem Turm ins Freie kam, wurde der Lärm noch lauter. Finger zeigten in seine Richtung. Der Vogt zerknüllte aufgebracht seine Mütze und schleuderte sie zu Boden. Drei weitere Soldaten waren über eine zweite Treppe auf dem Weg nach oben, gleich würden sie das andere Ende des Wehrgangs erreichen. Aus dem Palas schleppte ein Mann eine Armbrust herbei, doch ehe er sie spannen konnte, würde Faun längst fort sein.
Die Mitte des Wehrgangs kam näher. Nur noch wenige Schritte.
Hinter ihm polterte die Tür auf, mehrere Gestalten strömten in den Turm. Alle brüllten durcheinander und nahmen Fauns Verfolgung auf. Diesmal gaben sie Acht, einander in dem engen Turm nicht zu behindern. Nacheinander sprangen sie hinaus auf den schmalen Steinsteg des Wehrgangs,
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