Herrin der Lüge
vertrieb die schwarzen Biester und stopfte sich begierig die Reste der Nahrung in den Mund. Er hatte zwei Zähne verloren, ein dritter war locker, und das Kauen von hartem Brot und zähem Fleisch war eine Tortur. Seine Augen waren so dick geschwollen, dass er nur verschwommen sah. Und seine Nase mochte gebrochen sein oder auch nicht – der Schmerz kannte keinen Unterschied.
Das abgestandene Wasser in den Bechern kam ihm vor, als sei es gerade erst aus der Quelle geflossen, so durstig war er. Vielleicht hatten die Wächter hineingepinkelt, doch das glaubte er nicht. Sie hatten ihre Rache und ihren Spaß gehabt.
Besten Dank, Saga, dachte er, aber es lag nur wenig Verbitterung darin. Erstmals tauchte sie wieder in seinen Gedanken auf, trat durch die Schleier aus Schmerz auf ihn zu und bedeutete ihm, ihr zu folgen.
Aber wohin?
Und wie?
Weitere Tage vergingen. Mittlerweile war es sieben Nächte her, dass er Saga zuletzt gesehen hatte. Der Schmerz fraß noch immer überall an seinem Körper, und oft wachte er auf, weil er glaubte, die Ratten nagten mit gelben Zähnen an ihm. Dabei hatten sie wohl mehr Angst vor ihm als umgekehrt, und keine wagte sich näher als einen Schritt an ihn heran. Was da so wehtat, waren seine Blutergüsse und Platzwunden, obgleich er mittlerweile glaubte, dass nichts gebrochen war. Vielleicht war das Absicht gewesen, vielleicht auch Zufall. Jedenfalls tauchte keiner der Soldaten bei ihm auf, um das Versäumte nachzuholen. Sie hatten ihm heimgezahlt, was Saga ihnen angetan hatte. Er vermutete, dass es dabei weit weniger um ihre blauen Flecken und Kratzer gegangen war als vielmehr um die Erniedrigung, von einer Frau derart zugerichtet zu werden. Gewiss hatten sie sich von ihren Kameraden in der Wachstube eine Menge Spott anhören dürfen.
Am achten Tag bekam Faun erneut Besuch.
Als die Tür aufging und zwei Soldaten eintraten, glaubte er erst, er habe sich getäuscht und seine Peiniger wären zurückgekehrt. Der lockere Zahn tat mittlerweile scheußlicher weh als die Wunden der beiden ausgeschlagenen, doch alles andere begann allmählich zu verheilen. Eine Schande, dachte er, wenn sie das wieder zunichte machen würden. Er hatte sogar mit einfachen Übungen wie Liegestützen begonnen. Früher hatte sein Vater ihn dazu gezwungen, um ihn auf die körperlichen Strapazen ihrer Gauklerkunststücke vorzubereiten; nun war er beinahe dankbar dafür. Falls er jemals hier herauskäme, wollte er nicht auf Krücken durchs Burgtor wanken.
Die beiden Soldaten, die rechts und links der Tür Stellung bezogen, waren nicht dieselben wie vor einer Woche. Sie musterten ihn mit einer Mischung aus Neugier und Überheblichkeit, machten aber keine Anstalten, ihn anzugreifen.
Den Männern folgte ein Junge, höchstens zehn Jahre alt. Nikolaus von Lerch hatte das hellblonde Haar seiner Mutter geerbt, sein Gesicht war voller Sommersprossen. Er trug helle, einfache Kleidung aus besticktem Leinen, enge Beinlinge, eine Tunika und, an einem schmalen Gürtel, einen Dolch, der an ihm so groß wie ein Kurzschwert aussah. Die Scheide war alt und abgewetzt – ein Erbstück, mutmaßte Faun. Vielleicht ein Andenken an seinen verschollenen Vater Graf Gahmuret.
»Du bist der Bruder der Lügnerin«, stellte der Kleine fest.
Faun wollte aufstehen, doch einer der Soldaten deutete mit der Lanze in seine Richtung und befahl ihm, am Boden sitzen zu bleiben. Faun hob beschwichtigend eine Hand und blieb im schmutzigen Stroh hocken. So befanden er und der Grafensohn sich fast auf gleicher Augenhöhe. Nikolaus war klein für sein Alter, sein Körperbau ungemein zart. Seine Haut schimmerte durchscheinend. Erwachsene mochten ihn für ein hübsches Kind halten.
»Du darfst mich nicht unterbrechen!«, fuhr Nikolaus den Soldaten an, der Faun zurechtgewiesen hatte. Der Wächter versteifte sich und richtete die Augen geradeaus.
Der Junge wandte sich wieder an Faun. »Und du musst jetzt meine Frage beantworten. Du bist ein Gefangener, und Gefangene müssen gehorchen.«
Faun war kurz davor, ihm zu erklären, dass er gar keine Frage gestellt, sondern eine Feststellung getroffen hatte. Aber dann nickte er. »Saga ist meine Schwester, das ist richtig.«
»Und dein Name?«
»Faun.«
»Ich heiße Nikolaus.« Nach kurzem Zögern setzte er hinzu: »Ich bin jetzt der Herr von Burg Lerch.«
»Wo ist die Gräfin?«
»Fort.«
»Und meine Schwester?« Fauns Fäuste ballten sich am Boden um Stroh. »Was habt Ihr mit ihr gemacht?«
»Sie ist auch
Weitere Kostenlose Bücher