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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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weg«, sagte der Grafensohn. »Zusammen mit meiner Mutter.«
    »Weg? Wohin?«
    Der Kleine runzelte die Stirn in der Nachahmung eines Erwachsenen. »Du darfst mir keine Fragen stellen. Ich bin der Herr von Burg Lerch. Du bist mein Gefangener.«
    Faun lag eine passende Erwiderung auf der Zunge, doch er schluckte sie widerwillig herunter. »Also ist Saga am Leben«, stellte er fest.
    »Kannst du auch lügen?«, platzte es unvermittelt aus Nikolaus hervor. Offenbar war das die Frage, die ihn hergetrieben hatte.
    »Nein«, sagte Faun.
    Der Kleine musterte ihn durchdringend. »War das eine Lüge?«
    »Was meint Ihr?«
    »Ich hab dich gefragt, ob du auch so gut lügen kannst wie deine Schwester, und du hast Nein gesagt. Das könnte die Wahrheit sein, aber auch eine Lüge. Und ich würde es nicht merken, weil das bedeuten würde, dass du genauso gut lügst wie sie.«
    Nikolaus sprach ungeheuer schnell, und Faun hatte nach den einsamen Wochen im Kerker Schwierigkeiten, ihm auf Anhieb zu folgen. Er brauchte ein paar Herzschläge, ehe ihm klar wurde, was der Junge meinte. Es kam ihm nicht vor wie etwas, das ein gewöhnlicher Zehnjähriger sagen würde. Martha, seine achtjährige Schwester, redete ganz anders. Vielleicht hörte er besser auf, den Grafensohn zu unterschätzen.
    »Ihr habt Recht«, sagte er diplomatisch. »Wenn ich ein so guter Lügner wäre wie Saga, könnte alles, was ich sage, gelogen sein. Aber«, fügte er hinzu, »Ihr würdet mir trotzdem nicht glauben, jedenfalls nicht, solange Ihr mir nicht glauben wollt.«
    »Warum sollte denn jemand belogen werden wollen?«, fragte Nikolaus verständnislos.
    »Bei Erwachsenen ist das manchmal so.«
    Der Junge wurde nachdenklich und überlegte einen Moment lang mit ernster Miene. Als er zu keinem zufrieden stellenden Schluss kam, schob er den Gedanken beiseite und verkündete: »Du wirst es mir beibringen. Wie man lügt. So richtig, dass jeder mir glauben muss.«
    »Aber das kann ich nicht.«
    »Ich kann befehlen, dass du getötet wirst.«
    Faun musste jetzt sehr vorsichtig sein, was er als Nächstes sagte. »Ich bitte um Verzeihung, Herr« – und dieses Wort musste er nun wirklich herauswürgen –, »aber ich bin kein Lügner wie Saga. Sie ist mit diesem Talent geboren worden. Ich nicht. Wenn es anders wäre, würde ich Euren Wunsch gern erfüllen. Aber so, wie es nun mal ist, kann ich es nicht.«
    »Du lügst mich doch gerade an. Das beweist, dass du’s kannst.« Der Junge grinste breit. »Meine Mutter sagt, sie erkennt sofort, wenn jemand sie anlügt. Ich auch.«
    »Aber erkennt Ihr auch die Wahrheit?«
    Nikolaus stutzte. »Wenn ich weiß, wenn jemand mich anlügt, dann weiß ich auch, wenn er die Wahrheit sagt.« Der Junge wurde mit einem Mal unsicher und blickte sich Hilfe suchend nach den beiden Soldaten um. »Oder?«
    »Gewiss, Herr«, erwiderte einer der beiden gelangweilt.
    »Verzeiht noch einmal, Herr«, bat Faun, der das Gefühl hatte, dass er sich gerade um Kopf und Kragen redete und trotzdem nicht damit aufhören konnte, »das ist ein Irrtum. Lüge mag das Gegenteil von Wahrheit sein, aber die Wahrheit ist keinesfalls immer das Gegenteil von einer Lüge.« Das hatte Saga einmal behauptet, und er hatte eine Weile gebraucht, bis ihm klar geworden war, was sie damit meinte.
    Der Grafensohn jedoch war nun restlos verwirrt, und Faun erkannte im selben Moment, dass das nicht gut war.
    »Alles, was du sagst, ist gelogen«, stammelte der kleine Herr von Burg Lerch. »Das ist der Beweis, dass du lügen kannst! Und du wirst es mir beibringen.« Er scharrte mit einem Fuß im Stroh, stampfte dann auf. »Morgen komme ich wieder. Bis dahin kannst du dir überlegen, wie du mich zum besten Lügner der Welt machst.«
    »Aber, Herr, ich –«
    »Morgen«, unterbrach ihn Nikolaus patzig.
    Er gab den Wachen ein Zeichen und verließ den Kerker. Die Männer folgten ihm. Dann schlug die Verliestür zu.
    In der Ferne hörte Faun, wie sich das Quengeln des Jungen entfernte.
    Am nächsten Tag, dem neunten nach Fauns letzter Begegnung mit Saga, kehrte Nikolaus zurück. Bis dahin hatte Faun die stille Zuversicht gehegt, dass der Kleine nach Kinderart das Interesse an ihm verloren haben könnte.
    »Und?«, fragte Nikolaus, nachdem sich die beiden Soldaten neben der Tür aufgebaut hatten.
    Faun saß im Stroh, diesmal mit dem Rücken zur Wand, weil er fürchtete, sich verteidigen zu müssen. Von oben schien fahles Tageslicht wie ein glühender Stachel durch die Fensteröffnung.
    »Ich

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