Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
wolle sie ausrauben oder vergewaltigen.
    Er hatte den Pranger noch immer nicht erreicht. Sieben oder acht Schritt lagen zwischen ihm und dem Mädchen.
    Er blieb stehen und hob beide Hände, um ihr zu zeigen, dass er unbewaffnet war.
    Sie schüttelte den Kopf. War sie stumm? Besser wäre es, dann würde sie nicht mehr Lärm veranstalten als nötig, wenn er sie packte und zwischen die Bäume schleppte.
    Er warf einen raschen Blick auf den Soldaten am Pranger. Aus der Nähe gab es keinen Zweifel mehr, dass er tot war. Sein Hals hing unnatürlich schief in der Kopföffnung des Prangers, und der große dunkle Fleck zu seinen Füßen war ganz sicher kein Schatten.
    Das Mädchen stand noch immer regungslos an derselben Stelle. Sie hatte den Kopf leicht geneigt, wie um den Geräuschen und Stimmen zu lauschen, die sich näherten.
    Die Furcht lähmte sie. Faun kannte das. Er hatte Verständnis dafür. Aber es änderte nichts an der Gefahr, die ihnen drohte.
    Mit einem leisen Seufzen lief er los, genau auf sie zu, in der Hoffnung, dass sie überrumpelt genug war, um keinen Widerstand zu leisten.
    Sie ließ nicht zu, dass er sie berührte. Mit einem zornigen Fauchen tauchte sie unter seiner Hand hinweg, machte einen Ausfallschritt nach vorn und rammte ihm den Ellbogen in die Seite. Faun konnte nicht ausweichen. Er war noch immer viel zu angeschlagen von seiner Flucht und den zahllosen kleinen Verletzungen. Stöhnend stolperte er zur Seite, fiel über die eigenen Füße und landete im Dreck. Als er aufschaute, sah er ihren Stiefel auf sich zukommen. Er drehte das Gesicht weg, aber sie erwischte ihn an der Wange. Ihre Fußspitze traf ihn wie ein Hammer.
    Faun fiel vornüber auf den Bauch. Er spuckte Blut und noch etwas anderes in den Staub. Der lockere Zahn! Eine Sorge weniger. Dafür brannte jetzt sein ganzes Gesicht, als hätte man ihn in glühende Kohlen gedrückt.
    Das Mädchen rannte davon, zurück durch die Schneise zwischen den Häusern, Richtung Waldrand. Faun kam taumelnd auf die Füße, sah die Umgebung leicht verschwommen, orientierte sich und nahm als Erstes die Stimmen der betrunkenen Dorfbewohner wahr. Sie mussten jeden Moment um die Ecke biegen. Er sah Schatten über die Hauptstraße zucken. Die Männer hatten Fackeln dabei. Da kamen sie!
    Faun hetzte los. Vielleicht hatten sie ihn gesehen, vielleicht nicht. Er würde nicht abwarten, bis er Gewissheit hatte. Vorbei I an dem toten Soldaten. Er sah ihn jetzt zum ersten Mal von vorn. Das Gesicht des Leichnams war mit einem Gitter aus Schnittwunden überzogen. Verzeih mir, dachte er und versuchte, sich gegen das Grauen zu wehren, das ihn bei dem Anblick überkam. Er musste schneller sein. Irgendwie den Wald erreichen.
    Vor ihm ertönte ein Fluch, dann ein Rascheln, gefolgt von einem dumpfen Laut. Das Mädchen war im Dunkeln über irgendetwas gestolpert. Er sah sie gerade noch am Boden zwischen den Farnwedeln verschwinden. Natürlich, sein Bündel!
    Mit wenigen Sätzen war er bei ihr, warf sich mit seinem ganzen Gewicht über sie und fingerte hektisch in ihrem Gesicht herum, bis er den Mund fand und zudrückte. Sie versuchte, ihn zu beißen, und wehrte sich mit Händen und Füßen. Aber sie hatte keine Chance.
    »Ich will dir nichts tun!«, flüsterte er heiser an ihrem Ohr. »Aber wenn du nicht still bist, finden sie uns!«
    Falls sie das nicht ohnehin längst getan hatten. Er wagte kaum, einen Blick zurückzuwerfen, aber als er es doch tat, war. eine Wand aus Farnkraut im Weg.
    »Sei still! Bitte!«, wisperte er.
    Sie schnappte erneut nach ihm, und diesmal bekam sie mit den Zähnen ein Stück von seinem Handballen zu fassen. Es fühlte sich an, als bisse sie ihm den ganzen Arm ab. Mühsam unterdrückte er einen Schrei, riss sich los, presste die Hand aber gleich wieder auf ihre Lippen, zu fest, als dass sie abermals zubeißen konnte.
    Dann verlagerte er sein Gewicht, bis seine Knie ihren Oberkörper tiefer in den Boden drückten. Umständlich hob er die Schultern, ohne den Druck zu verringern. Rund um den Pranger waren jetzt mehr Fackeln als zuvor. Doch keine von ihnen bewegte sich in ihre Richtung.
    Er zog seinen Kopf zurück. »Sie haben uns nicht gesehen, glaube ich«, flüsterte er. »Kann ich dich jetzt endlich loslassen, ohne dass du das ganze Dorf zusammenbrüllst?«
    Ihr Widerstand erlahmte, auch wenn sie immer noch vom Nacken bis zu den Fußsohlen angespannt war. Dann murmelte sie etwas. Es klang wie ein Ja.
    Sie hatte tatsächlich nicht geschrien, und sie gab

Weitere Kostenlose Bücher