Herrin der Lüge
auch jetzt keinen Laut von sich, als sie gebückt durch das Dickicht huschten. Faun war erstaunt, dass sie ihm freiwillig folgte. Er blieb erst stehen, als sie einen weiten Bogen um das Dorf gemacht hatten. Niemand war ihnen gefolgt.
Faun sah sich um. Hier musste es nach Süden gehen. Das Blätterdach war zu dicht, um nach dem Mond zu suchen, aber er glaubte zu erkennen, wo die Wolken heller waren als anderswo. Das reichte aus, um sich zu orientieren.
Sie blieb neben ihm stehen, richtete sich zögernd auf und lehnte sich mit dem Rücken gegen einen Baum. Sie war hübscher, als er im ersten Moment angenommen hatte, und das verwirrte ihn, selbst in einer Lage wie dieser. Ihr langer blonder Zopf war zur Hälfte aus dem Wams gerutscht und stand wie eine Schlaufe von ihrem Nacken ab. Sie bemerkte es und stopfte ihn zurück unter die Kleidung.
»Wer war er?«, war zu seiner Überraschung das Erste, was sie über die Lippen brachte. Sie hatte Blut am Kinn. Seines, von der Bisswunde.
»Du kanntest ihn nicht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Er hat mir leid getan. Ich hab ein Gebet für ihn gesprochen.«
»Ein Soldat von Burg Lerch.« Seine Hand brannte wie Feuer. Eigentlich hätte er die Wunde mit irgendetwas reinigen müssen, aber er hatte in den letzten zwei Tagen so viele Kratzer, Schrammen und Abschürfungen davongetragen, dass eine mehr ihn nicht umbringen würde.
»War er ein Freund von dir?« Ihre Aussprache war auffallend klar. Sie war beileibe nicht so außer Atem wie er.
»Ich kannte nicht einmal seinen Namen.« Er hob die Hand und betrachtete in einem Streifen Mondschein den halbmondförmigen Abdruck ihrer Zähne. Einige Vertiefungen waren blutunterlaufen, aber es war nicht so schlimm, wie er anfangs geglaubt hatte.
Sie zeigte keine Spur von Reue. »Fass mich nicht an, und das passiert nicht noch einmal.«
Er wollte wütend auf sie sein, aber etwas dämpfte seinen Zorn. Er war nicht einmal sicher, was es war. Du wirst dich nicht von einem hübschen Gesicht aus der Fassung bringen lassen, nicht wahr?, dachte er. Und doch fürchtete er, dass genau das die Ursache war. Sie war zu schön für dieses raue Waldland, selbst unter dem Schmutz und in ihren zerschlissenen Kleidern. Er wollte nicht mit ihr streiten, obgleich er wahrlich allen Grund dazu hatte.
»Wer bist du?«, fragte er.
»Ich heiße Tiessa.«
Er schüttelte den Kopf. »Das meine ich nicht. Was tust du hier? Du gehörst nicht zu dem Soldaten. Aber aus der Gegend stammst du auch nicht.« Er sah sie fragend an. »Warum reist du allein?«
»Ich bin auf der Suche nach der Magdalena.«
Faun stutzte. »Nach wem?«
»Nach der Heiligen, die Frauen zum Kreuzzug aufruft, um die Ungläubigen vom Grab des Erlösers zu vertreiben.«
»Ein Kreuzzug ins Heilige Land?«, fragte Faun spöttisch. »Heißt das, der Erlöser ist plötzlich darauf angewiesen, dass ihm Weiber zu Hilfe kommen?«
In ihren Augen blitzte es, das war alles. Es schien unter ihrer Würde zu sein, sich auf einen Disput mit ihm einzulassen. Und sie hatte keine Skrupel, ihn das wissen zu lassen.
Hochnäsige Ziege, dachte er.
»Wenn es stimmt, was sich die Leute erzählen, dann muss die Magdalena hier vorbeigekommen sein. Sie ist weiter nach Süden gezogen«, erklärte sie. »Reist du auch nach Süden?«
»Vielleicht.«
»Warum gehst du dann nach Osten?«
Er blickte voraus in den Wald, dann wieder zu ihr. »Aber da ist Süden.«
Sie schüttelte den Kopf. »Da ist Süden«, sagte sie und zeigte nach rechts. Sie ging voraus, blieb aber nach ein paar Schritten stehen und schaute sich zu ihm um. »Kommst du?«
»Warum sollte ich dich mitnehmen?«, fragte er.
»Im Moment nehme ich dich mit, oder?« Sie sah, was für ein Gesicht er machte, und fügte hinzu: »Ich habe Geld«, sagte sie und lächelte ihn entwaffnend an. »Du auch?«
Er rückte sein Bündel zurecht, dann zuckte er die Achseln. »Tiessa, richtig?«
Sie nickte.
»Ich heiße Faun.«
Der Bethanier
Das Land war so flach, dass die Sonne hier länger schien als anderswo. Jedenfalls behaupteten das die Händler und Pilger, die über die Straße nach Norden kamen und den einsamen Hof passierten. Die Sonne gehe hier früher auf und versinke später hinterm Horizont, sagten sie; das sei unnatürlich. Wenn Gott gewollt hätte, dass die Welt so flach wäre wie ein zugefrorener See, dann hätte er anderswo nicht so hohe Gebirge geschaffen, Es müsse doch einen Grund geben, warum er den Menschen in dieser Gegend keine Berge,
Weitere Kostenlose Bücher