Herrin der Lüge
fortzusetzen, aber von ihnen hat man nie wieder gehört. Jerusalem haben sie ganz sicher nicht befreit!« Er lachte bitter auf. »Und wir Übrigen – nun, wir gingen zurück und taten weiterhin das, was wir am besten konnten.«
»Du warst einer von ihnen!« Sie war nicht überrascht, nur erstaunt, dass er es so offen eingestand.
Er nickte langsam. »Ich bin nicht besonders stolz darauf.«
Sie spürte den sonderbaren Drang, seine Hand zu nehmen, aber dann tat sie nichts dergleichen. »Danke«, sagte sie, »dass du mir das alles erzählt hast.«
Er nickte, und sie hingen eine Zeit lang schweigend ihren Gedanken nach.
»Was hast du danach getan?«, fragte Saga schließlich.
Zinder räusperte sich. »Eine Weile lang habe ich noch an Philipps Seite gekämpft«, erzählte er zögernd. »Er war sicherlich nicht der einzig Schuldige an diesem Fiasko. Sogar über die Rolle des Papstes wurde gemunkelt – obgleich der Heilige Stuhl die Taten im Nachhinein scharf verurteilte.«
Saga sah hoch. »Was könnte ausgerechnet der Papst für einen Grund haben, den Kreuzzug scheitern zu lassen? Hast du nicht vorhin gesagt, dass er es war, der überhaupt erst zur Fahrt ins Heilige Land aufgerufen hatte?«
Zinder nickte nachdenklich. »Sicher. Doch der Untergang Konstantinopels und seiner störrischen Kirchenfürsten war ein ungeheurer Sieg für den Papst. Die Christen des Ostens haben sich stets geweigert, Roms Päpste als Oberhäupter anzuerkennen. So viel steht fest: Innozenz kam die Zerstörung von Byzanz nicht ungelegen. Aber wenn wirklich jemand beweisen könnte, dass der Papst einen Kreuzzug missbraucht hat, um die Ostkirche von Byzanz zu vernichten, dann wäre das eine Katastrophe für die gesamte Christenheit.« Zinder machte eine kurze Pause, als müsste er seine Gedanken neu sortieren. »Wie auch immer – ich jedenfalls konnte Philipp nicht mehr ins Gesicht blicken, nach allem, was passiert war. Ich konnte nicht vergessen, was wir – was ich dort unten im Namen Gottes getan hatte.«
»Hast du deshalb die Seiten gewechselt und für Otto von Braunschweig gekämpft?«
»Ja. Aber wenn du mich fragst, ob das die richtige Entscheidung war – ich weiß es nicht. Philipp blieb trotzdem deutscher König und wurde bald darauf ermordet. Und nun sitzt Otto auf dem Thron, doch was tut er? Führt Krieg in Italien, überwirft sich mit dem Papst, dem er seine Kaiserkrönung verdankt …« Er schüttelte niedergeschlagen den Kopf. »Es scheint, als hätte die ganze Welt den Verstand verloren.«
Saga sah ihn mitfühlend an. »Wovon träumst du wirklich, Zinder? Doch nicht nur von einem Stück Land und einer Familie.«
Ihr war, als unterdrückte der Söldnerführer ein Schaudern. »Von Vergebung? Willst du das hören?«
»Ich weiß es nicht. Sag du es mir.«
Aber er gab keine Antwort, saß einfach nur da und starrte den Boden an.
Burg Hoch Rialt
Erst als das Land immer steiler anstieg, erfasste Saga, was das Wort Berge tatsächlich bedeutete. Sie hatte nie zuvor solche Giganten gesehen. Nicht einmal in ihrer schlimmsten Vorstellung waren diese Gipfel so hoch gewesen.
Jetzt, da sich das Gebirge nicht mehr nur vor ihr erhob, sondern sie mit jeder Wegstunde rascher von allen Seiten einkreiste, überkam sie eine solche Angst, dass sie sich in ihrer Kutsche verkroch, das Gesicht zwischen den Armen vergrub und eine Weile lang nichts anderes tun konnte, als erbärmlich zu zittern und sich selbst beim Atmen zuzuhören – einem Atmen, das klang wie der Blasebalg eines Schmiedes.
Irgendwann legte sich ihre Panik, und sie erinnerte sich an die vielen Mädchen dort draußen, denen sich der Anblick der Berge ebenso fremd und Ehrfurcht gebietend darbot wie ihr selbst.
Sie folgten noch immer dem Rhein, der hier gemächlich durch ein breites Tal floss, herab von seiner Quelle irgendwo in der Einöde des Gebirges.
Solange sich Sagas Augen nur auf den Fluss konzentrierten, dessen Ufer flach und von saftigem Gras bewachsen vor ihr lag, konnte sie ihre Furcht im Zaum halten. Doch sobald sich ihr Blick nach oben verirrte, über das ebene Ufergebiet hinweg, die dicht bewaldeten Hänge hinauf und dann empor zu den zerfurchten Kalk- und Granitzähnen, überkam sie augenblicklich neue Beklemmung. Es kam ihr vor, als würde das Gebirge vornüberkippen, um das gesamte Rheintal unter sich zu begraben. Die wandernden Wolkenmassen, die sich zwischen den Gipfeln dahinschoben, verstärkten den Eindruck von Bewegung, vom Eigenleben dieser grauen
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