Herrin der Schädel
die sich ziemlich stark abgekühlt hatte.
In den vergangenen Tagen hatte London einen Ansturm des Frühlings erlebt, der nun vorbei war. Die Blüten waren explodiert, Allergiker hatten bei ihrer Krankheit zu leiden, aber der Winter ließ sich nicht so leicht vertreiben. Er würde mit kälteren Temperaturen zurückkehren, schließlich hatten wir erst April.
Ich drückte die Tür wieder hinter mir zu, schaute mich um, sah nichts Verdächtiges und hörte nur das ferne Rauschen der Themse. Es hatte sich nichts verändert.
Nachdem ich die Deckung verlassen hatte, waren es nur ein paar Schritte bis zum Eingang des Friedhofs, der von der Anlage her zu den ungewöhnlichen zählte. Die Gräber waren an einem Hang angelegt worden, und als Gehstrecken gab es einen großen, außen herumführenden Rundweg und einige serpentinenartige Pfade, die praktisch ein Quermuster bildeten.
Dieses Gelände gab es bereits einige Jahrzehnte lang. Es war auch noch genügend Platz für neue Gräber, aber die Gruften herrschten hier vor. Einige von ihnen waren geschändet worden. Man hatte die Totenschädel hervorgeholt und ansonsten nichts angerührt. Alle Knochen waren zurückgelassen worden.
Die Diebe interessierten sich eben nur für die Schädel, und ich war sicher, dass hinter diesem Plan sehr deutliche Interessen steckten.
Das Tor war auch in dieser Nacht abgeschlossen worden. Um den Friedhof herum verlief keine Mauer. Man hatte sich für einen Maschendrahtzaun entschieden. Für mich war das mehr ein Alibi als ein normales Hindernis.
Die Wege kannte ich mittlerweile. Ich hatte mich diesmal für den Rundweg entschieden, denn von ihm aus besaß ich einen guten Überblick, und das auch in der Dunkelheit. Wenn jemand den Friedhof betrat und sich im Schein irgendwelcher Lampen orientierte, dann würde ich es sehen.
In den drei Nächten zuvor war nichts passiert. Bei mir hatte sich eine gewisse Lethargie eingeschlichen, und ich ging schon fast davon aus, dass auch in dieser Nacht alles ruhig bleiben würde. Möglicherweise hatten die Diebe spitz bekommen, dass der Friedhof überwacht wurde, und hielten sich erst mal zurück.
Hier waren drei Gräber geschändet worden. Dazu gehörten zwei Gruften, und da war die Beute der Diebe natürlich größer gewesen. Sie hatten einige Schädel mitgehen lassen und waren mit brutaler Gewalt vorgegangen.
Um mich herum gab es eigentlich nur die Stille. Da sang kein Vogel, da war kein Rascheln zu hören, ich vernahm auch keine Stimmen, und es war eine andere Stille als die, die man in einem nächtlichen Wald vorfindet. Es konnte daran liegen, dass die vielen Toten in der Erde lagen, aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein. Von klein auf hatte ich erfahren, dass sich ein Mensch auf einem Friedhof einfach anders benimmt, wenn er ihn betritt. Man geht langsamer, man lauscht mehr, und man dämpft auch seine Stimme bei einer Unterhaltung.
Nur ich war zu hören. Ich hatte mich an den Rhythmus meiner Schritte gewöhnt. Außerdem kannte ich das Gelände bereits. Da wirkten manche Grabsteine wie alte Bekannte.
Die Kreuze befanden sich in der Überzahl. Manche groß und schlank, andere wiederum waren kleiner, auch dicker und wirkten deshalb kompakter. Wer einen besonderen Geschmack besaß, der hatte das Grab des oder der Verstorbenen mit Figuren schmücken lassen. So standen die Engel manchmal wie stumme Wächter in der Dunkelheit, und auf einigen Gräbern sah der Besucher Skulpturen, die auch als moderne Kunstwerke hätten durchgehen können. Von denen nur niemand wusste, was sie eigentlich darstellen sollten.
Der Rundweg stieg zunächst an. Dabei führte er in einer weit geschwungenen Linkskurve weiter. An der höchsten Stelle und bevor es wieder bergab ging, lag die größte Gruft. Sie maß einige Meter in der Breite, und sie war ebenfalls geschändet worden. Da hatte man die Erde aufgewühlt und mehrere Schädel hervorgeholt. Auf den verschiedenen Grabsteinen stand zu lesen, wer da begraben lag. Es waren die Mitglieder einer adeligen Industriellen-Familie, die in der Nähe ihr Werk gehabt hatten, wo Schuhe hergestellt worden waren.
Die Nachkommen gab es noch. Die Fabrik nicht mehr, und die Schuhe wurden in einem Billiglohnland hergestellt.
Vor der Gruft blieb ich stehen. Ich kannte sie ja und warf nur einen kurzen Blick über sie hinweg. Es war keine zu finstere Nacht, aber es schien auch kein voller Mond.
Was dort am Himmel stand, sah aus wie ein Fußball, der noch richtig aufgeblasen werden
Weitere Kostenlose Bücher