Herrin des Blutes - Thriller
sie waren nichts weiter als Schnappschüsse aus einer Zeit, die längst vergangen und für immer verloren war. Karen Hidecki war tot. Auch die Alicia Jackson von damals lebte nicht mehr. Die wiedererweckte Alicia würde nie mehr sein als ein obszöner Abklatsch der Verstorbenen.
Und was Chad betraf …
Die Atmosphäre des Traumes begann sich jäh zu verändern. Der blaue Himmel verfärbte sich zu einem ans Rot grenzenden Orange. Die Frisbeescheibe hob sich kaum noch von ihm ab, als sie von einer Windböe erfasst wurde, die für den Sommer viel zu kalt schien. Karen hetzte der Scheibe hinterher, und für einen Moment sah es aus, als wäre sie schnell genug. Aber dann rollte ihr Kopf von der Schulter und hüpfte über einen Streifen verrottetes Gras, das noch vor wenigen Augenblicken saftig grün geleuchtet hatte. Dream setzte sich auf, stieß einen stummen Schrei aus und deutete auf den kopflosen Körper, der in vollem Lauf auf eine Reihe verwitterter Bäume zuhielt. Der Anblick ihres eigenen blassen Unterarms erschreckte sie. Was war mit ihrer wunderschönen Bräune passiert?
Dann erklärte Alicia mit der krächzenden Stimme einer verrottenden Leiche: »Du bist nur noch eine alte Hure. Das Mädchen, das du einst warst, ist genauso tot wie diese kopflose Schlampe.«
Es war die wiedererweckte Alicia, die exakt so aussah wie damals, als Dream ihr zum ersten Mal in diesem Drecksloch von einer Bar begegnet war. Hunderte triefender Rasiermesserschnitte übersäten ihre aufgedunsene Haut.
Dream zitterte und schüttelte hilflos den Kopf. »Nein … nein …«
Alicia legte das Buch zur Seite, das sich inzwischen in Die satanische Bibel verwandelt hatte, und begann, auf Händen und Knien auf Dream zuzukrabbeln. Ihre Mundwinkel verzerrten sich zu einem lasziven Grinsen. Die Haut an ihren Lippen platzte auf, und ein blasses, trockenes Stück Zunge erschien und leckte wie entfesselt über die neuen Wunden. Aus ihrer Kehle platzte raues Gelächter.
Sie streckte eine blutende Hand nach Dream aus und sagte: »Komm schon, gib mir ein bisschen Liebe, Baby.«
Dream schrie.
Sie riss die Augen auf und erwachte. Über ihr befand sich das schwere Samtdach des Himmelbetts. In ihrem Kopf drehte sich alles, und zuerst dachte sie, sie schlafe noch immer und sei nur von einer Traumebene in die nächste geglitten. Trügerische Wachträume – ein gemeiner, aber vertrauter Trick ihrer zerbrechlichen Psyche. Dann erkannte sie das Gefühl jedoch als das, was es tatsächlich war: einen Beinahe-Rauschzustand. Sie war nicht lange genug bewusstlos geblieben, um den Kater der letzten Nacht auszukurieren.
Was sie eindeutig vorgezogen hätte.
Sie rollte aus dem Bett und schnappte sich die beinahe leere Flasche Tequila, die auf dem Nachttisch stand. Sie hielt sie hoch und schüttelte. Es war noch genug für einen letzten ordentlichen Schluck übrig. Sie stürzte ihn herunter. Die Flüssigkeit rann durch ihre Kehle wie weiches Wasser. Es hatte eine Zeit gegeben, in der schon ein winziger Schluck Tequila ausreichte, ihr den Magen umzudrehen. Sie stellte die leere Flasche zurück auf den Nachttisch, streckte ihre Gliedmaßen und rollte den Kopf hin und her, um den verspannten Nacken zu lockern.
Die Bilder aus dem Traum kehrten zurück und prasselten über sie herein. Nicht der vorhersehbare Teil am Ende, als alles verrottete. Dream hatte zu viel realen Horror durchlebt, um sich vor derartigen Albtraumbildern zu fürchten. Was ihr wirklich zu schaffen machte, war der Anfang des Traums, der so lebhaft und wahrhaftig gewirkt hatte. Eine Szene, die einer lange unterdrückten Erinnerung entrissen war. Tage wie diesen hatte es wirklich gegeben. Viele sogar. Zeiten des wahrhaften Glücks, umgeben von ihren besten Freunden. Ausgefüllt, jung, am Leben. Die Gedanken daran verursachten den vertrauten Stich ins Herz. Das war genau der Grund, weshalb sie normalerweise verzweifelt versuchte, diese Erinnerungen in ihr Unterbewusstsein zu verbannen. Der übliche Reflex, sie zu unterdrücken, wollte diesmal jedoch nicht einsetzen. Zu dumm. Als Nächstes würden die Tränen in Strömen fließen …
Aber das geschah nicht. Ihre Augen glänzten ein wenig feucht, aber das war alles. Und anstatt brennend bis zum Kern ihres Leidens vorzudringen, verpuffte der vertraute Schmerz.
Dream seufzte. »Nichts währt ewig.«
Sie blickte sich in dem riesigen, leeren Zimmer um und fragte sich, mit wem sie eigentlich redete. Die Antwort lag auf der Hand. Es war niemand sonst
Weitere Kostenlose Bücher