Herrin des Blutes - Thriller
Frieden verschaffen würde, dass sie ihre Verzweiflung womöglich sogar noch vertiefte, aber das Bedürfnis, sie zu erfahren, überlagerte alles andere.
Sie konzentrierte ihren Willen, so gut sie konnte, und rief in die Leere: AZAROTH! ERHÖRE MICH! ICH FLEHE DICH AN! WARUM HAST DU MICH VERLASSEN?
Zunächst war da gar nichts. Nur völlige Dunkelheit. Ein undurchdringliches Nichts. Dann spürte sie einen warmen Hauch auf ihrer Haut, eine subtile Veränderung der Atmosphäre, wie das Seufzen eines Geliebten an ihrem Hals. Die Wärme verstärkte sich und löste die Kälte ab, die für gewöhnlich den Raum durchdrang.
Dann erkannte sie einen winzigen Lichtpunkt in der Ferne.
Er wuchs an und verdrängte die Dunkelheit. Giselle konnte die Steinmauern hinter ihrem Käfig erkennen, wenn auch nur sehr undeutlich. Das flackernde Licht in der Mitte des Raums leuchtete zunehmend greller und wuchs auf die Größe eines Menschen heran. Rund um den Lichtschein waberte dünner Nebel, und Giselle wurde bewusst, dass sie es mit einem Portal zu tun hatte, einem Durchgang zwischen den Dimensionen. Sie nahm Schatten im Licht wahr, Formen, die sich bewegten, und etwas, das auf sie zukam. Eine der Formen verwandelte sich in die dunkle Silhouette eines Mannes.
Er trat aus dem Licht in die Dunkelheit der Kammer.
Giselles Schreie hallten von den Wänden wider.
Sie schrie und schrie und schrie. Krächzte sich heiser.
Der Mann lachte leise und näherte sich dem Käfig. Giselle wimmerte und rutschte ans hintere Ende zurück, schaukelte in ihrem beengten Gefängnis wild hin und her.
»Neiiiin …« Sie stöhnte. Ihr Geist rebellierte, setzte sich gegen die Wirklichkeit zur Wehr, die sich allerdings nicht abstreiten ließ. Der Mann kam dichter heran, löste sich nicht etwa in Luft auf, wie es eine gute alte Halluzination getan hätte. »Neiiin … neinneinneinnein …«
Der Meister lachte und sagte: »Doch.«
Sie stöhnte erneut. »Wie kann das sein?«
Er schmunzelte. »Ich bin in meinem Leben nach dem Tod regelrecht aufgeblüht, Giselle. Damit hättest du eigentlich rechnen müssen. Ich habe jenen zerstört, den du Azaroth nennst, und seinen Platz bei den Todesgöttern eingenommen. Ich war es, mit dem du während deiner jüngsten Schwierigkeiten kommuniziert hast. Ich bin derjenige, der das Blutopfer deines Freundes verlangte. Von jenem Moment an habt ihr mir gehört – du und dein totes Gewissen.«
Wieder dieses höhnische Lachen. Es erfüllte die Kammer, fuhr ihr in sämtliche Glieder und löste einen stechenden Schmerz hinter ihren Augen aus.
Sie wimmerte erneut. »Töte mich. Bring es zu Ende.«
Seine Miene veränderte sich, und beinahe schien es, als lege sich eine tiefe Traurigkeit auf seine attraktiven Gesichtszüge. »Aber nein. Dein endgültiges Urteil liegt in den Händen anderer.« Er streichelte ihre Wange mit dem Rücken seiner muskulösen Hand. »Ich offenbare mich dir noch ein letztes Mal, um dir zu danken. Deine Opfer haben meine Rückkehr überhaupt erst ermöglicht. Dafür bin ich dir bis in alle Ewigkeit zu Dank verpflichtet.«
Giselle weinte. Sie war nicht länger in der Lage, ihre Verzweiflung auf andere Weise zu bewältigen. Der Lichtschein glomm schwächer, als sich das Portal zwischen den Dimensionen zu schließen begann. Der Meister blieb noch eine Weile bei ihr in der Kammer, streichelte ihre Haare und ergötzte sich an ihren Schmerzenslauten, während Dunkelheit und Kälte sie langsam wieder in Besitz nahmen.
Kapitel 23
In ihrem Traum schien alles wie früher zu sein. Sie war deutlich jünger, und ihr langes Haar glänzte in einem lebhaften Blond. Ihre Haut war tiefbraun gebrannt, genau der hübsche Teint, den alle Jungs so unwiderstehlich sexy fanden. Sie befand sich in einem Park. Ein herrlicher Sommernachmittag, die goldene Sonne stand hoch am blauen Bilderbuchhimmel. Sie lag in einem weißen Bikini ausgestreckt auf einer Decke und genoss die warmen Strahlen. Ihre Freunde leisteten ihr Gesellschaft. Alicia saß neben ihr und schmökerte in einem Roman von John Grisham. Karen und Chad warfen sich in einiger Entfernung eine Frisbee zu. Die orangefarbene Scheibe flog in hohem Bogen über den Himmel, und Chad musste sich sputen, um sie aufzufangen. Musik tönte aus einem Gettoblaster, der erste Hit einer Newcomer-Band namens Green Day.
Es war ein wundervoller Traum, auch wenn ihn eine subtile Melancholie umgab. Ein schmerzliches Gefühl des Verlustes strafte die Reinheit der Bilder jedoch Lügen. Denn
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