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Herrin wider Willen

Herrin wider Willen

Titel: Herrin wider Willen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Sophie Marcus
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hatte. Dennoch betrachtete er das weiße, faltige Gesicht, das durch die Reglosigkeit, zu der es nun auf ewig verdammt war, sein Mitgefühl erregte, und sah ein, dass er trotz allem etwas Einzigartiges verloren hatte. Der Tote war das Glied, das vor ihm kam, in der langen Kette derer, von denen er herstammte und die er vielleicht eines Tages selbst zeugen würde. Diesem Mann und seinen Vorfahren ähnelte er womöglich, diesen Mann hätte er nach solchen Ähnlichkeiten fragen und um Erklärungen bitten können.
    Manche Einsichten waren nun für immer verloren.
    Auch der Grund, warum sein Vater so achtlos mit Menschen umgesprungen war. So ohne Moral, dass Lenz sich nun fragen musste, ob etwa tatsächlich auch das kleine bleiche Geschöpf, das draußen an der Hand seiner Mutter gehangen hatte, von seinem Vater gezeugt worden war.
    Aegidia. Allein der Name. Er wusste nicht, woher der Name stammte, nur dass er die männliche Form davon selbst führte: Aegidius, sein dritter Vorname. Er schüttelte den Kopf, um dem neu aufsteigenden Ärger Einhalt zu gebieten, und sah Ada an. »Morgen kommt er unter die Erde. Danach bist du Herrin hier.«
    Sie erwiderte seinen Blick und seufzte. »Zwischen euch gab es wirklich keine Liebe, wie es scheint. Willst du die Leute zusammenrufen, damit ich sehe, mit wem ich es zu tun habe?«
    Lenz nickte und führte sie aus dem Saal – in dem Wissen, dass sie, selbst wenn er alle zusammenrief, nur die Hälfte von denen sehen würde, mit denen sie es zu tun hatte. Die Geister der anderen stünden unsichtbar dahinter.
    Zwölf Zimmer gab es im Haus, das größte Doppelgemach hatte Ludwig von der Wenthe bewohnt, im zweitgrößten hatte Cornelia von Questenberg sich mit ihrer Tochter eingerichtet.
    Lenz hatte bei seinem früheren Aufenthalt das ehemalige Zimmer seiner Mutter benutzt, das zur Südseite des Hauses lag, Christopher das daneben. Es lag auf der Hand, dass Ada und Lenz gemeinsame Gemächer beziehen mussten, um den Anschein einer Ehe zu wahren. Deshalb ließen sie ihr Gepäck in diese beiden Räume bringen. Christopher bezog eines der letzten beiden bewohnbaren Zimmer, am Ende des Ganges.
    Das Haus war ein kleines Schloss von verblasster Pracht. Es war gebaut worden, um eine große Familie und viel Gesinde beherbergen zu können und Raum für gesellschaftliche Vergnügungen zu bieten, gleichzeitig aber die Verteidigung im Notfalle zu ermöglichen. Mit Fenstern war man daher sparsam gewesen. Im Untergeschoss waren sie nachträglich vergrößert worden, im Obergeschoss wohl von Anfang an größer gewesen. Viel Licht ließen sie dennoch nicht herein.
    Jedem Raum sah man an, dass die Blütezeit der Geselligkeit vor Jahrzehnten geendet hatte. Viele Hände wurden gebraucht, um gegen den Verfall anzukämpfen, auch wenn einzelne Räume wenig oder nie genutzt wurden. Ada hatte in Celle ohne Unterlass an einem solchen Kampf teilgenommen. Auch dem Haus ihrer ehemaligen Schwieger-Großeltern fehlten zwei jüngere Generationen, die die vielen Räume hätten beleben können.
    Bei der Begutachtung der Wenthe’schen Burg wurde ihr unwohl. Sicher war das ein stolzer Besitz, aber man musste ausgezeichnet wirtschaften, damit er sich trug, und sie hatte das Personal für diese große Aufgabe bisher noch nirgends gesehen.
     
    Der Große Saal mit seinen verblichenen und löchrigen gestickten Wandteppichen lag im Obergeschoss. Hier waren früher die großen Gesellschaften gegeben worden, bei denen zuerst auf dem Eichenparkett getanzt, später darauf geschlafen wurde. Die Zimmer waren den hochgestellten Gästen vorbehalten geblieben.
    Von jenen vergangenen Festen zeigte der Saal Spuren: Fett-, Wachs- und Brandflecken, Ruß über dem riesigen Kamin, von Nagelschuhen und Stuhlbeinen zerschabtes Holz, abgewetzte Vergoldungen an den Paneelen. Und obwohl das letzte Fest viele Jahre zurücklag, hatte Ada, als sie durch die prunkvolle Flügeltür eintrat, den Eindruck, dass der Geruch von erhitzten Menschen, Rauch, Wein und gebratenem Schweinefleisch noch in der Luft hing und sich mit dem Modergeruch feuchter Wände mischte.
    Ada war die Erste im Saal, sie wollte die Menschen von Wenthe nacheinander ankommen sehen. So konnte sie vielleicht schon eine Bekanntschaft schließen, bevor sie als Fremde der ganzen Gruppe gegenübertreten musste.
    Die Fenster des Saales lagen zur Westseite des Hauses, hin zur Kapelle und zu den Ställen. Von einem der Alkoven aus konnte Ada sehen, wie unten eine Bauernfamilie aus dem Stall

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