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Herrmann, Elisabeth

Herrmann, Elisabeth

Titel: Herrmann, Elisabeth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeugin der Toten
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wütend. Er nahm eine Pinzette und versuchte, an einem
streichholzgroßen Bäumchen zu rütteln, aber es stand so fest, wie das nur
Pattex und deutsche Eichen vermochten. Wenn Buchen alle waren, dann bestellte
man neue. Man pappte nicht einfach einen Ersatz hin, der im Nachhinein nicht zu
rechtfertigen war und der von jedem, der Ahnung hatte, sofort entdeckt würde.
An den Verladegleisen unten am Hafen hatten keine Eichen gestanden, das sah
sogar heute noch jeder Depp.
    Jörg suchte einen Mitropa-Speisezettel, von denen hatten sie noch mehrere
Kartons gebunkert, und legte ihn als Lesezeichen in das Kursbuch. Ächzend stand
er auf und drängte sich durch den schmalen Gang zwischen den einzelnen
Modellaufbauten. Er sah Gregor über die Schulter.
    »Merkt doch keiner.«
    »Ich merke es.«
    »Alter Pedant. Kaffee klein?«
    Kaffee klein war die Variante mit Asbach. Gregor sah auf die Wanduhr - ein
Original aus Huai'an, einer Stadt, deren Namen keiner hier aussprechen konnte,
die aber seit drei Jahren neben Trelleborg, Cuxhaven und dem russischen
Kingisepp Partnerstadt von Sassnitz war und deren Vertreter wohl vor dem Antrittsbesuch
gut recherchiert hatten. Als Gastgeschenk hatten die kleinen, freundlichen
Männer nämlich eine alte Bahnhofsuhr mitgebracht. Englisches Fabrikat,
zwanziger Jahre, die tatsächlich noch oder wieder funktionierte. Vielleicht
eine Anspielung auf die kaputte Uhr im Bahnhofsturm, die seit ewigen Zeiten auf
halb acht stehengeblieben war. Vielleicht war der Ruf der Modelleisenbahnfreunde
Sassnitz aber auch schon bis nach China gedrungen, und man wollte ihnen eine
ganz besondere Freude machen. Ernsthaft glaubte das keiner, doch einen guten
Witz gab es immer noch ab.
    Es war eine der letzten Ausgaben des Rasenden
Rolands gewesen, die die feierliche Übergabezeremonie
in aller Ausführlichkeit gewürdigt hatte. Das Foto vom ersten und bisher einzigen
Besuch des Bürgermeisters beim Club der Modelleisenbahnfreunde hing,
sorgfältig gerahmt, über dem Tresen der kleinen Bar im Nebenraum, zu dem sich
Jörg nun ächzend und schlurfend aufmachte, um den Kaffee klein vorzubereiten.
    »Gleich Mittach«, sagte Jörg mit seiner hohen, nasalen Plattdütschstimme.
    Gregor sah ihm nach und fragte sich, wann Jörg endlich mal zum Arzt ging.
Der Ruhestand schien ein Einschnitt im Leben der Menschen zu sein, der von der
Gesellschaft und der Medizin überhaupt nicht richtig wahrgenommen wurde. Die
einen blühten auf - Karin besuchte seit neuestem sogar einen Tanzkurs -, die
anderen wurden kleiner, krochen in sich hinein, wurden unsichtbar. Noch ein,
zwei Jahre, befürchtete Gregor, und Jörg wäre verschwunden.
    Gregor wollte sich gerade mit einem Kopfschütteln wieder an die
Baumentwurzelung machen, als er unten die Tür schlagen und Schritte auf der
Holztreppe hörte. Er legte die Pinzette hin. Unangemeldeter Besuch kam selten.
Ihre Mitgliedstreffen fanden zwar immer noch regelmäßig statt, aber der
Nachwuchs fehlte. Die jungen Leute interessierten sich nicht mehr für Eisenbahnen.
    Die Schritte klangen, als ob ein uralter Mensch sich mühsam jede Stufe
nach oben quälen würde. Gregor hatte genug Zeit, um aufzustehen und zur Stiege
zu gehen, bevor der Besucher auch nur die Hälfte geschafft hatte.
    Die Besucherin, verbesserte sich Gregor. Und eine junge noch dazu.
Zumindest sah sie auf den ersten Blick aus wie eine dieser ewigen Studenten:
Pferdeschwanz, flache Schuhe, dunkles Kleid. Je weiter sie aus dem Schatten der
Treppe ans Licht stieg, desto genauer konnte Gregor erkennen, dass sie auf den
zweiten Blick älter war und aussah, als würde sie gerne in den Boxring steigen.
Einmal hatte er sich den Film Million Dollar Baby aus der Videothek ausgeliehen. Genauso wie diese amerikanische Schauspielerin
sah sie aus. Nicht ganz so dünn und nicht ganz so verbiestert wie ... er kam
nicht auf den Namen. Außerdem war die da blond. Aber so, wie sie sich am
Geländer festhielt und immer mal wieder eine kurze Pause machte, um zu Atem zu
kommen, hätte sie direkt aus dem Film hier auftauchen können. Vielleicht als
Sparringspartnerin von dieser Wie-hieß-sie-noch-mal.
    »Guten Tag?« Er ließ den Gruß wie eine Frage ausklingen.
    Sie erklomm gerade die letzten Stufen. Zugegeben: Die Treppe war steil,
fast eine Hühnerleiter, aber sogar er schaffte sie, ohne gleich in Ohnmacht zu
fallen.
    »Tag«, schnaufte sie. »Bin ich hier richtig beim Modelleisenbahnverein
Sassnitz?«
    Gregor warf einen kurzen Blick in Richtung

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