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Herrmann, Elisabeth

Herrmann, Elisabeth

Titel: Herrmann, Elisabeth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeugin der Toten
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sich und hob den Vorhang hoch, der an der Längsseite der
Trajekt-Anlage an der Spanplatte festgetackert war und den Blick auf das
restliche Gerumpel verdecken sollte, das keinen Platz mehr auf dem Spitzboden
hatte. Er tastete nach der Leiter, fand sie und zog sie heraus. »Die haben was
gut.«
     
    Judith kletterte hinter Gregor nach oben. Auf halber Höhe entfernte er
die Riegel der Dachluke, stemmte sie hoch und kletterte auf den Boden. Dann
beugte er sich herab und reichte ihr die Hand. Er zog sie mit so einem Schwung
nach oben, dass sie beinahe leichtfüßig auf den Holzbrettern landete.
    »Kopp einziehen«, brummte der Modelleisenbahner.
    Judith sah sich in gebückter Haltung um. Durch die verstaubten
Lukenfenster fiel nur wenig Licht. Das, was sie erkennen konnte, waren eine
gewaltige Menge Umzugskartons, so ordentlich beschriftet und unter die
Dachschräge geschoben, dass sich sogar die Kollegen von Synanon noch eine
Scheibe davon abschneiden konnten. Sie versuchte, nicht allzu neugierig zu wirken.
Das kam bei den Herren sicher nicht gut an.
    Sie dachte an Kaiserley und daran, was er wohl in all diesen Kisten
vermuten würde. Die verschwundenen Rosenholz-Dateien? Stasi-Akten? Was ging
sie das an. Er war weg, endlich. Eigentlich müsste sie das freuen. Stattdessen
...
    Sie folgte Wossilus, der zielstrebig durch den engen Mittelgang auf die
Nordseite des Giebels zustrebte, als wisse er genau, was er suchte. Lenins
Salonwagen. Dass sie darauf nicht schon viel früher gekommen war, ärgerte sie.
Während der Mann eine der Kisten aus ihrem Dämmerschlaf in das helle
Lichtgeviert unter einer Luke zerrte, versuchte sie sich an das zu erinnern,
was sie im Fach Kunde von der sozialistischen Heimat einmal auswendig lernen
durfte.
    Der
Genosse Wladimir Iljitsch Uljanow Lenin kommt am 12. April 1917 in einem
verplombten Salonwagen der Königlich-Preußischen Eisenbahn-Verwaltung am Hafen
von Saßnitz an, um von dort aus auf die »Drottning Victoria« zu gehen und am
16. April St. Petersburg zu erreichen. Er ruft auf zur russischen Revolution.
    »Herrgottsackzement.«
    Staub wirbelte auf, als Wossilus den Karton öffnete. Er holte ein Bündel
kratzige Wolldecken heraus und legte es auf den Boden. Vorsichtig, beinahe
andächtig, zog er die Ecken weg.
    »Grüner Schnellzugwagen, Sechsachser. Acht Abteile und Gepäckwagen.«
    Das Modell war aus Metall gefertigt. Eine robuste, detailgetreue
Nachbildung des Originals. Judith starrte auf ihren Alptraum im Maßstab ...
    »Eins zu achtundvierzig, Normgröße null. So kriegt das heute keiner mehr
hin.«
    Sie nahm Wossilus den Wagen aus der Hand und hielt ihn gegen das trübe
Licht. Roter Samt auf den Bänken. Gepäckablagen aus Messing, die funkelten wie
getriebenes Gold. Hielt ein fünfjähriges Mädchen das für einen Palast?
Eindeutig ja. Wer sein Leben lang nur die stickigen, unbequemen Züge der Deutschen
Reichsbahn gekannt hatte, bekam bei dieser Sonderanfertigung große Augen. Sie
bewegte die silbern schimmernden Räder. Ta-klonk. Ta-klonk.
    »Und die Sassnitzer dachten damals, irgendwelche russischen Großfürsten
würden sie beehren«, sagte Wossilus. Ihm durfte ihr stummes Staunen nicht
entgangen sein, denn er betrachtete Modell und Judith mit dem gleichen
Wohlwollen. »Macht schon was her für den Genossen. Sieht doch aus wie neu,
was?«
    »Ja«, sagte Judith und gab den Wagen vorsichtig zurück. Dabei klappte
eine kleine Tür auf. »Sorry, hoffentlich ist nichts passiert?«
    »Das Gepäckabteil. Eine Schwachstelle gibt's immer.«
    Mit einem Scharfblick, den Judith dem Mann in diesem Dämmerdunkel nicht
zugetraut hatte, verschloss er die Tür mit einem winzigen, für das bloße Auge
kaum zu erkennenden Häkchen.
    »Das Original hatte einen extra angefertigten Schlüssel. Vier gab es davon
mal, einer ist noch da. Und raten Sie mal, wo.«
    »Bei Ihnen?«, fragte Judith.
    Wie Alberich, der das funkelnde Rheingold unter der Erde versteckt,
verfrachtete Wossilus den Waggon wieder in seinem Pappkarton. Nachdem er ihn an
die richtige Stelle zurückgeschoben hatte, klopfte er sich den Staub von den
Händen.
    »Jou«, sagte er.
    »Und der Wagen? Das Original?«
    Wossilus verzog das Gesicht. Offenbar hatte Judith ihn an etwas
Schmerzliches erinnert.
    »Kommen Sie wieder runter. Der Kaffee wird kalt.«
    Sie stieg voran, Wossilus folgte ihr und verschloss die Dachluke
sorgfältig. Unten wartete bereits Jörg mit der nächsten Lage. Judith nahm die
angebotene Tasse und trank sie in

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