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Herrmann, Elisabeth

Herrmann, Elisabeth

Titel: Herrmann, Elisabeth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeugin der Toten
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Kaffeeküche. Jörg hantierte
immer noch herum und hatte von dem unangemeldeten Besuch bisher nichts
mitbekommen. Die Frau sah nicht aus, als ob sie ihnen die Vereinskasse klauen
wollte. Doch irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Sie war nüchtern, wirkte aber
wie nicht ganz bei sich.
    »Zu wem möchten Sie denn?«
    Sie erreichte das Dachgeschoss und sah sich um.
    »Wow.«
    Der Ausruf kam so erstaunt und bewundernd, dass Gregor unwillkürlich einen
Schritt zurücktrat, um ihr die Aussicht nicht zu verstellen.
    »Was ist denn das?«
    Sie wies auf das Sahneteil: die zwanzig Meter lange Anlage der Strecke
Sassnitz-Stralsund. Sie nahm die gesamte Länge des Dachgeschosses ein.
    »Das ist unsere Schauanlage. Sechs Stromkreise, analoge Steuerung, sieben
Pendelstrecken und zwei Schmalspurbahnen. «
    »Mit richtig Wasser?«
    »Natürlich«, antwortete Gregor stolz. »Trajektverkehr geht nicht anders,
wenn man die Sache ernst nimmt.«
    Sie trat an die Anlage und schritt sie Meter für Meter ab, von Stralsund
bis Sassnitz.
    »Wahnsinn. Ist das die alte Fähranlage nach Trelleborg?«
    Sie deutete auf den Abschnitt acht am linken Ende der Anlage.
    »So, wie sie bis Anfang der Neunziger in Betrieb war.«
    Sie nickte. »Die alte Fischfabrik. Die steht da ja noch.«
    »Ja. Wir achten sehr auf Originaltreue.«
    Jörg erschien in der Küchentür, zwei Tassen in der Hand. Gregor hoffte,
dass er die letzten Sätze mitbekommen hatte. Die Frau hatte Detailkenntnisse.
Der würde bestimmt auffallen, wenn da statt Buchen Eichen stünden.
    »Ich bin Judith Kepler«, sagte sie und lächelte.
    »Gregor Wossilus. Stellvertretender Vorsitzender. Und das ist Jörg
Optenheide. Unser Kassenwart.«
    Sie reichte ihm die Hand. Gregor war erstaunt, wie rau und fest sie war
und dass sie sie mit Heftpflaster verbunden hatte. Maurerhände, dachte er.
Boxervisage. Aber interessiert sich. Nur das war für einen Modelleisenbahner
wichtig. Jörg stellte die Tassen auf dem Rollwagen ab und begrüßte die Frau
ebenfalls.
    »Auch einen Kaffee klein?«
    »Gerne.«
    Jörg reichte ihr seine Tasse und ging zurück in die Küche, um Nachschub zu
holen.
    »Darf ich fragen, was Sie zu uns führt?«
    Judith Kepler hob die Tasse, schnupperte und nahm dann einen Schluck, ohne
auch nur eine Miene zu verziehen. Asbach vertrug sie also schon mal.
    »Ich suche Lenin.«
    »Oh.« Gregor setzte an und probierte. Gottverdammich. War das mit Kaffee
verdünnter Weinbrand? »Das tut mir leid. Aber der Lenin ist nicht mehr hier.
Wenn Sie den Lenin meinen.«
    »Wie viele gibt es denn?«
    »Keine Ahnung. Zwei, drei ... Jörg? Hast du eine Ahnung, wo die Lenins
sind? Und wie viele es davon gibt?« Jörg kam zu ihnen.
    »Einen ham wir hier. In den Kisten auf dem Spitzboden. Soll ich mal
nachsehen?«
    Die Frau stellte ihre Tasse zurück auf den Wagen.
    »Wenn es Ihnen nicht allzu viel ausmacht? Wie viele Kisten sind es denn da
oben?«
    Sie sah skeptisch zur Decke, als ob sie die Größe des Lagerraums in dem
Dachgiebel abschätzen wollte. Jörg kratzte sich am Hinterkopf und brachte damit
die Ordnung seiner letzten verbliebenen Haarsträhnen durcheinander.
    »Ooch, meine Jüte. Vierzig? Fünfzig?«
    »Und was ist da drin?«
    »Modelle. Abgebaute Anlagen und so'n Kram.«
    »Wäre es sehr unpassend, wenn ich Sie bitten würde, einen Blick auf den
Lenin zu werfen? Ich klettere auch gerne selbst hoch.«
    »Nö«, antwortete Jörg. »Also klar. Machen wir gerne.«
    Gregor hielt es für angebracht, sich wieder in die Unterhaltung
einzuschalten. »Warum interessieren Sie sich denn so?« Keiner kletterte
freiwillig auf den Spitzboden. Spinnweben, Mäuse, Dreck.
    Die Frau lächelte wieder. Es hellte ihr Gesicht auf wundersame Weise auf.
Für einen Moment war sie beinahe schön.
    »Eine Kindheitserinnerung. Ich war fünf Jahre alt. Der Bahnhof, Lenin,
und sein Palast... ich kann es nicht zusammensetzen. Es wäre aber wichtig für
mich, wenn es mir gelänge.«
    »Gibt kein Palast«, sagte Jörg. »Nur einen Salonwagen. Und der ist weg.
Alles, was wir haben, ist das Modell.«
    »In einer der Kisten da oben.«
    Jörg nickte. Er setzte die Tasse an und trank sie schlürfend leer. Ein
sanfter Glimmer legte sich über seine Augen.
    »Sie kommen aus Sassnitz?«, fragte Gregor.
    Die Frau nickte. »Ich war eine Gagarin.«
    Gregor und Jörg tauschten einen kurzen Blick von der Sorte, der nur dann
etwas zu bedeuten hatte, wenn man sich schon sehr lange kannte.
    »Eine Gagarin«, wiederholte Gregor.
    Er bückte

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