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Herrmann, Elisabeth

Herrmann, Elisabeth

Titel: Herrmann, Elisabeth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeugin der Toten
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einem Zug aus. Nach allem, was ihr Körper in
den letzten achtundvierzig Stunden hatte verarbeiten müssen, war das allenfalls
Medizin. Aber sie lehnte ab, als Jörg ihr den nächsten Hammerkaffee anbot.
    »Ich muss noch fahren.«
    »Wohin denn?«, fragte der kleine Eisenbahner.
    »Nach Berlin.«
    Beide Männer nickten, und es sah aus, als ob sie Judith damit ihr
Mitgefühl für eine langjährige Haftstrafe aussprachen.
    Ich war in dem Waggon, dachte Judith. Endlich weiß ich, was das zu
bedeuten hatte.
    »Wo ist der echte Lenin jetzt?«
    »Keiner weiß es. Weg.«
    Wossilus zuckte bedauernd mit den Schultern. »Wir hätten ihn gerne
behalten. Wirklich. Aber als sie den alten Lokschuppen abgerissen haben,
wusste keiner, wohin damit. Es gab Pläne, ein Lenin-Museum daraus zu machen.
Aber erklären Sie das mal den Leuten vom Kultusministerium.«
    Judith grinste. Der Solidaritätszuschlag strapazierte Ost wie West
gleichermaßen. In Zeiten, in denen sich bereits Futterneid auf asphaltierte
Straßen regte, war ein Lenin-Museum wahrhaftig schwer zu vermitteln.
    »Verstehe. Aber so ein Waggon verschwindet doch nicht einfach.«
    »Verschwindet wie Kupfer und Gleise und Kabel und Schrott«, sagte Jörg mit
einem Kichern, als ob er genau wüsste, wovon er sprach. Wossilus warf ihm einen
scharfen Blick zu. Jörg verschluckte sich, hustete, murmelte etwas von Zucker
und Milch und verschwand in der Küche.
    »Wollen Sie mir damit sagen, dass Sie den Wagen demontiert und als Schrott
verkauft haben?«
    »Nein. Natürlich nicht. Das würde keiner tun, der ein Herz für die Eisenbahn
hat.«
    Judith glaubte ihm das sogar. Wossilus setzte sich neben den Rollwagen auf
einen Stuhl und betrachtete eine kleinere Modellanlage. Beim Anblick einer
Baumgruppe verfinsterte sich seine Miene.
    »Was ist das?«
    »Der Bahnhof von Sassnitz im Wandel der Zeit.«
    »Da steht der Lokschuppen ja noch.«
    »Ist ja auch das Modell der dreißiger Jahre.«
    »Haben Sie auch noch eines aus den Achtzigern?«
    Der Einfall war ihr in dem Moment gekommen, in dem ihr klarwurde, welche
Goldgrube der Erinnerung das hier oben eigentlich war.
    »Achtziger? Mit den Sperranlagen und allem?«
    »Ja.«
    Wossilus schüttelte den Kopf. Judith spürte die Enttäuschung in der
Magengrube. Es fühlte sich an wie der Aufzug im Rügen Hotel, wenn er hielt.
    »Aber wir haben noch Fotos. Und ein paar Super- 8 -Filme, die es jetzt auf DVD gibt. Können Sie kaufen.«
    »Ja«, sagte Judith schnell. Der Absatz der DVD war wohl nicht so reißend.
Sie wollte dem Mann einen Gefallen tun. »Hätte ich gerne.«
    Wossilus stand wieder auf und ging in die andere Ecke des Raumes. Judith
folgte ihm neugierig. Hinter einer Tür befand sich so etwas Ähnliches wie eine
Vereinsstube: ein kleiner Tresen, Sitzbänke aus Eisenbahnwaggons,
Stellwerklampen, Zugschilder. »Nett haben Sie es hier.«
    Wossilus brummte etwas Zustimmendes und beugte sich unter den Tresen.
    »Bückware«, meinte er, und es klang amüsiert. Er kam wieder hoch und
hielt eine Broschüre und eine DVD in den Händen. »Der Bahnhof von Sassnitz ...«
    »... im Wandel der Zeit«, vervollständigte Judith. Sie lächelte. »Vielen
Dank. Was kostet das?«
    »Aus Sassnitz? Sie?«
    »Ja.«
    »Nichts.«
    Judith nickte, und Wossilus brummte wieder etwas Unverständliches. Er
brachte sie noch bis zur Treppe. Sie verabschiedeten sich voneinander, auch
Jörg kam noch einmal aus der Küche und winkte ihr zu.
    Als Judith das Bahnhofsgebäude verließ, blieb sie stehen und betrachtete
das Gelände. Direkt gegenüber hatte einmal der Lokschuppen gestanden. Er war
verschwunden, und mit ihm der Eisenbahnwaggon, in dem Lenin nach Sassnitz
gekommen war. Sie schloss die Augen und versuchte, sich zu erinnern. Wie oft
hatte sie als Kind hier gestanden und nach dem verschwundenen Puzzleteil
gesucht. Die gelöschte Erinnerung hatte sie nicht losgelassen. Vielleicht war
es ihnen gelungen, das WAS zu vernichten. Aber nicht das WO. Und nicht das
DAS. DAS, was geschehen war in einer Nacht vor fünfundzwanzig Jahren, als sie
schon einmal hier gestanden hatte, die Hand der Mutter in der einen, ein
Stofftier in der anderen Hand. Kaiserley hatte erzählt, dass sie im gleichen
Zug gewesen waren und etwas schiefgelaufen war. Man hatte sie herausgeholt und
an einen anderen Ort gebracht. Nicht weit von hier. Eigentlich nur ein paar
Schritte über die Gleise.
    Sie öffnete die Augen und sah den Schuppen vor sich, die ausgebleichte
Fata Morgana einer Erinnerung.

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