Herrmann, Elisabeth
tastete sie nach dem Wecker - halb sechs. Morgens oder abends?
Mit einem Stöhnen warf sie sich zur Seite, doch der schrille Ton bohrte sich
wieder und wieder in ihr Innerstes.
Sie stand auf und torkelte in den Flur. Die Tabletten rächten sich - sie
fühlte sich wie betrunken, allerdings ohne zuvor die Vorteile des Rausches
genossen zu haben. Als sie nach dem Wandtelefon tastete, rutschte ihr der Hörer
aus der Hand. Er baumelte an seiner Schnur kurz über dem Fußboden. Wieder
klingelte es. Gleichzeitig klopfte jemand an die Tür. Das war Multitasking, und
es überforderte sie. Sie ließ den Hörer hängen und sah durch den Spion ins
Treppenhaus.
Kaiserley.
Ihr Herz stolperte. Sie hatte nach allem, was sie ihm in Sassnitz an den
Kopf geworfen hatte, nicht erwartet, ihn jemals wiederzusehen. Sie öffnete die
Tür und bückte sich vorsichtig nach dem Hörer. Nach dem dritten Anlauf hatte
sie es geschafft, ihn wieder einzuhängen.
»Habe ich Sie geweckt?«, waren seine ersten Worte. »Es tut mir leid, aber
ziehen Sie sich was an, ich muss mit Ihnen reden.«
»Was?«
Sie trug ein T-Shirt und sonst nichts. Seine Nähe verwirrte sie, und sie
gab dem Schlafmittel die Schuld, das sie so benommen und dadurch schutzlos
machte.
»Wie ...« Sie suchte nach Worten, weil Sprache und Denken sich immer noch
schwer vereinbaren ließen. Ihre Stimme klang schleppend. »Wie haben Sie mich
eigentlich gefunden?«
»Über mein ganz privates Einwohnermeldeamt. Darf ich?«
Er ging an ihr vorbei. Widerlich wach und unverschämt gut riechend. Eine
Zumutung. Sie schloss die Tür und knipste die Flurlampe an, zu spät. Der dumpfe
Laut aus dem Wohnzimmer verriet, dass Kaiserley bereits über etwas gestolpert
war.
»Ziehen Sie um?«
»Nein.«
Die Deckenlampe flammte auf. Kaiserley hatte den morschen Pappkarton an
der Seite erwischt. Er war eingerissen, und einige Bücher waren auf den Boden
gefallen. Interessiert bückte er sich und begann, sie aufeinanderzustapeln.
»Der
stille Don, El Hakim, Schimmelreiter ...« Er sah hoch. »Weltliteratur ein paar Jahrzehnte vor Ihrer Zeit. Haben Sie
ein Antiquariat?«
Er wies auf die anderen Kartons, die vor dem Bücherregal standen. Sie
bückte sich und sammelte einige Bände ein. »Das landet sonst auf dem Müll.«
»Also eine Art Bücherschutzheim?«
Judith sah ihn prüfend an, um herauszufinden, ob er sie auf den Arm nahm.
Offensichtlich nicht. Sie nickte. Langsam ging es mit dem Sprechen wieder.
»Das fällt beim Entrümpeln an. Manchmal tut es mir um eine Kiste leid.
Dann nehme ich sie mit.«
»Und Sie haben das alles gelesen?«
»Das meiste. Das, was einsortiert ist.«
Kaiserley ging an ihr Bücherregal. Er legte den Kopf schräg und las die
Titel auf den Rücken. Ab und zu zog er eines heraus, betrachtete den Einband
und stellte es wieder zurück. Es war ein wildes Sammelsurium, das wusste sie
selbst. Bücher gaben Auskunft über die Geisteshaltung ihres Besitzers. Und so
verschieden, wie die Menschen gewesen waren, denen sie gehört hatten, so bunt
zusammengewürfelt schien die Auswahl. Von Ernst Jüngers In
Stahlgewittern bis zu Bolls Verlorene
Ehre der Katharina Blum. Von Spur der
Steine und Die
Abenteuer des Werner Holt bis Leberts Wolfshaut und Lowrys Unter dem Vulkan. Wenn Kaiserley aus diesen Regalen etwas über sie erfahren wollte und das
der Sinn seines Besuches war, dann viel Vergnügen.
»Und?«, fragte sie. »Was sagt das über mich?«
»Dass Sie entweder unglaublich wahllos oder wissbegierig bis zum
Heißhunger sind.«
Sie ging ins Bad und stellte sich unter die Dusche. Wasser. Eiskalt. Sie
putzte sich zwei Mal die Zähne und fühlte sich danach immer noch dreckig. In
der Küche schaltete sie die Kaffeemaschine ein. Sie sah durch die offenen
Türen, wie er sich in eine fast schon antiquarische Ausgabe von Hesses Steppenwolf vertieft hatte. Sie fand das Kaffeepulver, füllte
den Filter, goss Wasser nach, verschüttete dabei die Hälfte und holte zwei
Tassen aus dem Bord.
»Milch? Zucker?«
Sie überlegte, wann sie das letzte Mal einen Mann das in ihrer Wohnung
gefragt hatte. Sie konnte sich nicht erinnern.
»Milch.« Er behielt das Buch in der Hand, als er zu ihr hinüberkam. »Ich
habe es geliebt«, sagte er. »Bis ich herausgefunden habe, dass ausgerechnet
der Kerl, der mir meine erste Freundin ausgespannt hat, es auch gelesen und
geliebt hat. Da war ich dann doch etwas enttäuscht von Hermann Hesse. Es ist
ein Irrtum, wenn man glaubt, etwas wäre nur für
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