Herrmann, Elisabeth
das mit dem Ruhestand gar nicht schnell genug kommen, was?« Er
nahm sie in die Arme. »Was hättest du dann bloß von mir? Ich würde Brieftauben
züchten und mit den Radieschen reden.«
»Es wäre endlich vorbei«, sagte sie leise.
Sie ließ ihn los. Er sah ihr nach, bis sich die Badezimmertür hinter ihr
schloss. Er wollte nicht, dass es vorbei war. Er wollte weitermachen. Aufhören
war Stillstand. Stillstand war ... er verdrängte den Gedanken und griff
automatisch zu seinem Handy, wie er das immer tat, wenn er es für einige
Minuten aus der Hand gelegt hatte. Was er sah, ließ sein Blut zu Eis gefrieren.
Eva hatte ein Gespräch von einer unterdrückten Nummer angenommen. Sie hatte
gelogen. Sie hätte keinen Grund dazu gehabt, wenn es ein beruflicher Anruf
gewesen wäre.
Hastig wischte er über das Display, bis er bei seinen privaten SMS
gelandet war. Den sehr privaten. Denen, die niemand zu Gesicht bekommen durfte,
weil in ihnen von Lust und Geilheit die Rede war. Hatte sie sie gelesen?
Er hörte, wie das Wasser der Dusche in die Wanne prasselte, und er stand
im Flur mit einem Badehandtuch und dem Weltuntergang in der Hand. Etwas war
geschehen. Etwas, womit er, der Meister der Lügen, nie gerechnet hatte: Die
falschen Fährten, die er so geschickt gelegt hatte, führten plötzlich in eine
ganz andere Richtung. Zu ihm.
Judith ging in den Flur und öffnete die Tür. Aber Kaiserley ging nicht. Er
stand mit verschränkten Armen im Türrahmen zum Wohnzimmer, und sein Lächeln
hatte schon längst wieder dem harten Zug um seinen Mund Platz gemacht.
»Dr. Sigbert Matthes«, fuhr Kaiserley fort. »Als Hubert Stanz Fachmann für
Operative Psychologie in der Stasi-Außenstelle Schwerin. Als er sich nach der
Wende in Potsdam niederlassen wollte und keiner ihm die Approbation entzog,
hagelte es Proteste. Was macht er in Sassnitz?«
»Ich weiß es nicht.« Judith versuchte, so überzeugend wie möglich zu
klingen. Das fehlte noch. Dass Kaiserley sich jetzt auch noch um Matthes
kümmerte. »Er hat mir gesagt, wenn ich ihn in Ruhe lasse, bekomme ich den Mann,
der meine Eltern verhaften ließ. Und verdammt noch mal: Lassen Sie ihn also in
Ruhe, verstanden?«
»Diese Leute sind noch genauso gefährlich wie damals. Sie stehen mit dem
Rücken an der Wand. Sie werden sich nicht von jemandem wie Ihnen in die Enge
treiben lassen.«
»Weil ich nur eine Putzfrau bin. Meinen Sie das?«
Ihre Stimme war heiser vor Wut. Er stieß sich von der Wand ab und kam
näher. So nahe, dass sie unwillkürlich einen Schritt zurückwich. Er hob die
Hand. Sie zuckte zusammen. Es war ein Reflex, gegen den sie nichts tun konnte
und den alle hatten, die als Kind zu oft geschlagen worden waren.
»Nein.« Er ließ die Hand sinken. »Weil ich Angst um dich habe.«
Sie wollte etwas antworten, aber sie vergaß es in dem Moment, in dem sie
in seine Augen blickte und nicht mehr loskam von ihm. Nein, dachte sie nur
noch. Nein. Er tut nur so. Er spielt wieder.
»Du hast doch keine Ahnung, was Angst wirklich ist«, flüsterte sie.
Er senkte seinen Kopf. Seine Lippen waren so nah an ihrem Mund, dass sie
seinen Atem spürte.
»Doch«, sagte er. »Mein Gott, die habe ich.«
Er küsste sie. Er küsste gut. Verdammt gut. Und er hörte einfach nicht
auf damit. Jedes Mal, wenn Judith ansetzte, um etwas zu sagen, erstickte er
ihre Worte mit unwiderstehlichen Argumenten. Leidenschaft, Überwältigung,
Hitze. Und noch etwas, das alles plötzlich leicht und einfach machte. Normal.
Nein, nicht normal. Anders. Neu. Lust, und mehr als das. Ein tiefes Wollen, ein
Zueinanderdriften, als wären sie zwei Sonnen, deren Umlaufbahnen sich nach
Jahrmillionen kreuzten. Sie spürte, wie ihr Widerstand brach.
Ihre Hände tasteten über seinen Körper, und alles, was sie fühlten, gefiel
ihr. Sie stöhnte, als er mutiger wurde und sie an die Wand drängte. Er wollte
sie. Sie wollte ihn. Das war echt, und es war das Einzige, dem sie trauen
konnte. Am liebsten jetzt, sofort, noch im Flur und über- und ineinander weiter
ins Schlafzimmer. Sie spürte die Hitze in ihrem Leib und das beinahe
unerträgliche Wollen. Plötzlich hörte er auf.
Er ließ sie los und trat einen Schritt zurück. Sie konnte seinen Atem
hören, keuchend vor Erregung, und sie sah im Halbdunkel, wie er die Hände hob
und sich fast hilflos durch die Haare fuhr.
»Es tut mir leid.«
»Was?«, fragte sie. Sie ging auf ihn zu und wollte ihn wieder küssen, aber
er nahm sie nur in die Arme und drehte sein
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