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Herrmann, Elisabeth

Herrmann, Elisabeth

Titel: Herrmann, Elisabeth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeugin der Toten
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einen selbst geschrieben
worden. Man ist immer in Gesellschaft. Nach was suchen Sie Ihre Bücher aus?«
    »Ich suche sie nicht aus. Sie kommen zu mir.«
    Sie wandte sich ab, damit er ihre plötzliche Unsicherheit nicht bemerkte.
    »Haben Sie studiert?«
    »Mit Hauptschulabschluss? Nein.«
    »Sie sollten das Abitur machen. Es gibt sehr gute Fernlehrinstitute und
Abendschulen.«
    »Ich habe keine Zeit. Und danke, ja, ich habe schon davon gehört.«
    Sie lehnte sich an den Kühlschrank und wartete darauf, dass eine
nennenswerte Menge Kaffee durchgelaufen war. Kaiserley ging zurück ins
Wohnzimmer. Er stellte das Buch ins Regal und schlich dann an ihrer
Plattensammlung entlang.
    »Das wird mir fehlen«, rief er ihr zu. »Sage mir, welche Musik du hörst,
und ich sage dir, wer du bist.«
    »Ganz schön elitär.«
    »Aber meistens zutreffend. Die Welt ist schon so arm geworden. Warum
lassen wir uns Bücher und Musik auch noch nehmen? Stattdessen bekommen wir
konvertierte Dateien. Man kann doch nicht in die Schweizer Berge fahren und
seiner großen Liebe Max Frisch auf einem E-Book vorlesen.«
    »Warum denn nicht?«
    Er ließ die Platte, die er eben in der Hand gehabt hatte, wieder an ihren
Platz zurückgleiten. Santana, Abraxas. Eine Pressung aus dem Jahr 1978. Sie goss Kaffee ein, ging zu ihm und reichte ihm einen Becher.
    »Mir hat nie jemand vorgelesen. Von mir aus hätten es auch Runen auf einer
Schiefertafel sein können.«
    »Und Kassetten? Hat Ihnen jemand mal eine Kassette aufgenommen?«
    »Wozu das denn?«
    »Um zu sagen, was man denkt und fühlt.«
    »Auf Kassette? Wie doof ist das denn.«
    Kaiserley schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein. Keine Sprachaufnahme. Ich
meine Musik. Lieder, die ausdrücken, was man für jemanden empfindet. Die sagen,
was man vielleicht so nie aussprechen würde. Ich habe stundenlang über der
Auswahl und der Reihenfolge gesessen, weil jedes Stück für sich so wichtig
gewesen ist. Ich habe sogar noch ein paar zu Hause. Alle paar Jahre höre ich
sie mir mal wieder an und denke an ...«
    »Ja? Und?«
    »Nicht wichtig. Vorbei.«
    Er trank einen Schluck Kaffee und sah sich um, als ob das Regal, die
Umzugskartons und die Sperrmülleinrichtung ein Bühnenbild wären und er sich
gerade fragte, welches Stück an diesem Abend gespielt wurde.
    »Ich habe auch keine Kassetten bekommen«, sagte Judith schließlich.
»Wahrscheinlich wäre sowieso nur death metal drauf gewesen.«
    »Death was?«
    »Was hören Sie denn?«
    »Immer noch Musik, die mir etwas zu sagen hat.«
    Sein Blick verfing sich in ihren Augen. Judith verfluchte die Tabletten.
Sie fühlte sich schwach, und das ärgerte sie. Schärfer als beabsichtigt fragte
sie: »Und welche Platte käme da jetzt in Frage? Irgendwas mit Sehnsucht
vielleicht?«
    Für einen jähen, wilden Moment stieg in Judith die Furcht hoch, er könnte
ja sagen. Man redete anders miteinander, wenn man über Bücher und Musik
gesprochen hatte. Kaiserley wies mit dem Kopf auf die Platten.
    »>Face á la mer<. Morcheeba und Les Negresses Vertes.«
    »Warum?«
    »Melancholie. Ein Friedhof am Meer. Das passt doch. Zu Ihnen passt das.«
    Ein kleines Lächeln stahl sich auf seinen schmalen Mund. Sie setzte sich.
Alles war anders auf einmal. Er sah sie an, und sie hatte das Gefühl, er würde
sie kennen. Wirklich kennen.
    »Sie wollen mir doch keine Gutenachtgeschichte vorlesen.«
    »Nein.«
    »Was ... wollen Sie dann?«
    Er stellte die Kaffeetasse ab. Judith erinnerte sich daran, dass sie seine
Hände gemocht hatte. Seine Arme. Seine Schultern. Sein Gesicht. Seine Augen
sahen so anders aus. Nach Schmerz. Nach Verlust. Nach ...
    »Wer war der Mann, mit dem Sie in Sassnitz gesprochen haben? Im Rügen
Hotel. Am Aufzug. Der mit der Modelleisenbahn.«
    Sie fuhr zusammen. »Was?«
    »Sie haben einen Tipp bekommen. Lügen Sie mich nicht an.«
    Sie wollte nicht zeigen, wie verletzt sie war. Für einen Augenblick hatte
sie vergessen, wen sie vor sich hatte: einen Mann mit zwei Gesichtern. Einen
begnadeten Manipulator. Einen Jäger, der nur seine Beute im Sinn hatte. Dafür
gab er einer Putzfrau auch schon mal das Gefühl, er könnte in ihre Seele
blicken. Etwas in ihr verschloss sich wie eine Ofenklappe. Es schmerzte einen
Moment, aber dann war es vorbei.
    »Wer war das?«
    »Ein Modelleisenbahner.«
    »Hören Sie auf!«
    »Ich weiß es nicht. Jemand, dem man im Hotel begegnet. So was soll
vorkommen. Vicky Baum steht da auch irgendwo noch rum. Schenke ich Ihnen.«
    Sie wies mit

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