Herrmann, Elisabeth
Gesicht weg.
»Nicht. Ich kann nicht.«
Judiths Hand glitt an seinem Körper hinab bis zu der Stelle, die hart und
eindeutig seine Worte Lügen strafte. »Erzähl keine Märchen«, sagte sie mit
einem leisen Lachen. Sie küsste seinen Hals, ihre Lippen fanden den Weg zu
seinem Mund beinahe automatisch.
»Judith ... nein. Es geht nicht. Nicht jetzt.« Vorsichtig löste er sich
von ihr. Sie blieb mit geschlossenen Augen stehen. »Lass uns vernünftig sein.
Bitte.«
Vernünftig. Na großartig. Judith wartete, einen Atemzug lang, zwei
Atemzüge, dann ließ sie ihn stehen und ging zurück ins Wohnzimmer. Jede Zelle,
jeder Nerv vibrierte von seinen Berührungen. Sie suchte ihren Tabak, fand ihn
nicht und hätte am liebsten die beiden Kaffeetassen und Kaiserley noch dazu an
die Wand geschleudert. Sie fühlte sich einfach nur lächerlich. Eben noch hatte
sie an Sonneneruptionen gedacht, und in der nächsten Sekunde machte er sie zu
einer Frau, die nur auf eine verrückte, heiße, schnelle kleine Nummer scharf
gewesen wäre.
»Ich wollte das nicht.«
Schon gut, Warmduscher. Beichte es am Sonntag. Aber nicht mir. Sie fand
ihren Tabak und ging hinaus auf den Balkon. Sie war so wütend, dass ihr die
Zigarette erst beim zweiten Anlauf gelang. Er folgte ihr.
»Es ist der Unterschied.«
Was für einen Blödsinn faselte er? »Welcher Unterschied?«
»Damals warst du ein Kind. Ich konnte dich nicht schützen. Und heute ...
vielleicht ist es das, was alles so schwierig macht.«
Für ihn vielleicht, aber für sie nicht. Judith wusste, dass sie auf Männer
nicht wie die zarte Rose wirkte, die behutsam umhegt werden wollte. Sie
irritierte, sie eckte an. Sie sagte und zeigte es, wenn sie etwas wollte.
Manchmal vielleicht zu deutlich und rücksichtslos. Vielleicht war Kaiserley
auch einer von der Sorte, der damit nicht umgehen konnte. Schade, eigentlich
hatte er einen robusteren Eindruck gemacht. Sie zündete sich die Zigarette an
und versuchte, ihren Ärger hinunterzuschlucken. Aber sie würgte ziemlich daran.
»Ich bin kein Kind mehr. Und ich kann nichts dafür, dass du deine
Beschützerinstinkte nicht bei deinen eigenen ausgetobt hast.«
»Ich habe keine Vatergefühle. So meinte ich das nicht.«
»Gott sei Dank.« Judith blies den Rauch aus und beobachtete, wie er in
sanften, ätherischen Schleiern nach oben stieg. »Sah auch nicht danach aus.«
Er stellte sich neben sie und blickte hinunter auf die Landsberger Allee.
Sie spürte seinen Körper, obwohl er mindestens eine halbe Armlänge Abstand
hielt. Schade. Einfach nur schade.
»Ich bin nicht der Typ für One-Night-Stands.«
Das erklärte natürlich alles. Judith nickte nur, erwiderte aber nichts,
denn jedes Wort, das ihr über die Lippen gekommen wäre, wäre Ironie pur
gewesen. Männer waren zarte Geschöpfe. Ein falsches Wort, und sie gaben einem
die Schuld, dass sie nie wieder einen hochbekamen.
»Und du?«, fragte er.
»Weiß ich, was ein One-Night-Stand ist? Man tut es. Und entweder bleibt
es bei dem einen Mal, oder es geht weiter. Ich gehe nicht mit fest gefassten
Vorsätzen an solche Dinge ran.«
»Du drehst mir das Wort im Mund herum.«
Sie blinzelte durch den Rauch zu ihm hinüber. Er war ein guter Typ. Sie
mochte ihn. Die Art, wie sich beim Lächeln kleine Falten um seine Augen
bildeten. Seine athletische, aber lässige Statur. Seine Haut war leicht
gebräunt, und die hochgeschobenen Ärmel seines Leinenpullovers gaben den Blick
frei auf seine muskulösen Unterarme. Ein One-Night-Stand also. Das unterstellte
er ihr. Quirin Kaiserley entdeckte die Moral.
Nun komm aber langsam wieder runter, sagte sie sich.
»Frieden?« Sie hielt ihm ihre Hand hin, er schlug ein.
»Frieden. Unter einer Bedingung. Ich komme mit.«
»Niemals.«
»Ich werde nicht noch einmal zulassen, dass jemand, der mir ...«
Sie würde nie erfahren, was er sagen wollte. Ihr Handy klingelte. Sie
ließ seine Hand los und spurtete ins Wohnzimmer. »Ja?«
»Spreche ich mit Judith Kepler?«
Eine flüsternde, heisere Stimme, die Judith einen Schauer den Rücken
herunterjagte. »Ja«, sagte sie.
»Haben Sie heute Abend schon etwas vor?«
Das Haus schien sich unter den ausladenden Tannenzweigen zu ducken. Ein
niedriges, unscheinbares Gebäude mit grauem Putz und einem Windfang, der nach
Heimwerker aussah. Hohe Kirschlorbeerbüsche standen entlang der
Grundstücksgrenze, so dass nur das Gartentor den Blick aufs Innere freigab.
Kaiserley parkte seinen Wagen auf der anderen
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