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Herrmann, Elisabeth

Herrmann, Elisabeth

Titel: Herrmann, Elisabeth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeugin der Toten
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Straßenseite.
    »Was sagt das Einwohnermeldeamt?«, fragte sie.
    Kaiserley checkte sein Handy. »Noch nichts. Unser Verbindungsmann hatte
schon Feierabend. Aber ich gehe davon aus, dass Horst Merzig ein Klarname ist.
Genauso wie sein Lebenslauf bei der Staatssicherheit.«
    »Du gehst davon aus.«
    Kaiserley seufzte. Er hatte immer noch die rechte Hand auf dem Lenkrad
liegen, und Judith dachte daran, wie diese Hand vor kurzem noch ... sie öffnete
die Tür und stieg aus. Gefühle hatten nichts in ihrem Leben zu suchen. Sie
konnten sich genauso in Luft auflösen wie Namen und Menschen. Und die Schizophrenie
des Kalten Krieges ließ vermuten, dass auch Merzig, den sie nun in seinem
Einfamilienhäuschen aufsuchten, mehr als nur ein Schreibtischtäter gewesen war.
    Der feuchte, schwere Geruch von verrottendem Grün empfing sie. Stadtrand.
Komposthaufen. Berieselter Rasen, blühende Blumen, hohe Bäume. Vögel
zwitscherten, der Himmel hatte dieses Nach-Sonnenuntergangs-Grün, das Judith so
liebte. Gedämpft drang der Straßenlärm der nahen Bi herüber. Es klang wie ein
satter Bienenschwarm, der die Ernte des Tages in den Stock brachte.
    »Kein ehemaliger Generalleutnant der Hauptabteilung II lebt noch unter
Decknamen.«
    Er stellte sich neben sie und warf einen schnellen, prüfenden Blick auf
die Umgebung. Kleine Einfamilienhäuser, entstanden in den sechziger und
siebziger Jahren, die Patina ansetzten und den Neubaugeruch der Siedlung
langsam tilgten. Stimmen und Gelächter mischten sich mit den Dialogfetzen aus
scheppernden Lautsprechern alter Röhrenfernseher, die voll aufgedreht neben
geöffneten Fenstern liefen. Judith stieg der Duft von Bratwürsten und
Holzkohle in die Nase. Jemand grillte.
    War sie schon einmal hier gewesen?
    Sie folgte Kaiserley über die Straße. Der Gartenzaun war eine
DDR-Schmiedearbeit, der verspielte, spießbürgerliche Gegenentwurf zur
sozialistischen Moderne. Blau. Himmelblau. Sie streckte die Hand aus, um die
Klinke niederzudrücken, doch Kaiserley hielt sie zurück. Neben dem
Klingelschild standen die Initialen H. M. Der Weg zum Windfang war aus
Waschbeton, und unter dem Vordach aus schmutzig gelber Hartfaserwellpappe
stand ein Mann. Er hatte die mittelgroße, drahtige Figur eines Gartenarbeiters.
Schlank, fast hager, mit einer gesunden Bräune in seinem scharf gezeichneten
Gesicht. Seine Augen, klein und blank wie Bachkiesel, fast verborgen von einem
Kranz tiefer Wetterfalten, verliehen seinem Ausdruck etwas Wachsames. Wie ein
Vogel, schoss es Judith durch den Kopf.
    Hatte sie ihn schon einmal gesehen?
    Sie hatte Angst. Sie wollte umdrehen und gehen. Aber sie wusste, dass es
den Weg zurück nicht mehr gab. Alles konnte sein, nichts war bewiesen.
Kaiserley sah sie an. Sie wusste nicht, was er dachte, aber plötzlich war es
gut, dass er da war.
    In den wenigen Sekunden, die sie brauchte, um vom Gartentor zu den Stufen
zu gelangen, versuchte sie, noch einen Blick auf das Grundstück zu werfen.
Rechteckig, die längere Seite zur Straße hin, vor Blicken fast verborgen und
gut in Schuss.
    »Vorsicht!«
    Fast wäre sie gestolpert. Der Mann kam zu ihr, geschmeidig, katzenhaft,
und hielt ihr die Hand entgegen. Judith ergriff sie. Sie war kühl und trocken.
»Frau Kepler?«
    Er hatte eine Stimme wie Schilfgras: elegant, fast wispernd, doch an den
Rändern rasiermesserscharf. Neben der schmalen Sichel seines Mundes gruben sich
die Wangen wie tiefe, zerklüftete Täler in seinen Schädel. Sein Alter war
schwer zu schätzen. Schlechte Ende sechzig, gute Anfang achtzig.
    »Horst Merzig. Ich bin sehr erfreut, Sie kennenzulernen.« Das Schilf rieb
aneinander. Trockene Blätter, vom Wind berührt. »Und Sie sind ...?« Er warf
einen Blick über ihre Schulter.
    »Quirin Kaiserley. Publizist.«
    Merzigs dünne Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Er reichte auch ihm
die Hand.
    »Ich verfolge Ihre Veröffentlichungen mit großem Interesse. Vielleicht
ergibt sich noch die Gelegenheit für die eine oder andere Anmerkung. Aus
meiner Sicht.«
    Judith und Kaiserley folgten Merzig ins Haus. Es war so angelegt, dass
alle Erfordernisse des täglichen Lebens sich auf einer Ebene abspielten: Küche
links, Bad rechts, dahinter ein karges Schlafzimmer, geradeaus das Wohnzimmer.
Die Türen standen halboffen, als ob Merzig damit zeigen wollte, dass er nichts
zu verbergen hatte.
    Das Wohnzimmer war einfach möbliert. Eine Sitzgruppe von skandinavischer
Schlichtheit, Bücherregal, Standuhr, Schreibtisch. Es wurde

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