Herrmann, Elisabeth
dominiert von
einem für diese Verhältnisse riesigen Aquarium. Sein grünliches Licht tauchte
das Fensterbrett und die Grünpflanzen darauf in einen fast verwunschenen Glanz.
Die Fische hatten forellengroße, silbern schimmernde Leiber mit tiefblauer
Zeichnung. Sie bewegten sich mit einer geradezu majestätischen Eleganz.
»Mein Hobby.« Merzig war Judiths interessierter Blick nicht entgangen.
»Kakadububas. Buntbarsche. Seit ich im Ruhestand bin. Also ziemlich genau seit
Sommer 1990. Wollen Sie
Platz nehmen? Sie sehen müde aus.«
Judith nickte und suchte sich den Sessel aus. Um nichts in der Welt wollte
sie neben Kaiserley auf einem Sofa sitzen. »Ich habe auch ein paar anstrengende
Tage hinter mir.«
»Ich weiß.«
Merzig bot Kaiserley den Platz neben sich auf der Couch an. Er zog einen
Kristallaschenbecher zu sich heran, in dem eine Pfeife lag.
»Sie haben hoffentlich nichts gegen Rauch. In meinen eigenen vier Wänden
neige ich zur Rücksichtslosigkeit. Ich bekomme nicht viel Besuch.«
Er öffnete eine Tabakdose und begann, die Pfeife zu stopfen. Judith ließ
sich von so viel zur Schau getragener Ruhe nicht täuschen. Merzig war wachsam.
Und er beobachtete scharf.
»Dann will ich Sie nicht lange aufhalten«, sagte sie. »Dr. Matthes ...«
Sie stockte und warf Kaiserley einen kurzen Blick zu. Was dachte er
darüber, dass sie sich mehr und mehr in Abhängigkeit von alten Stasi-Kadern
begab? Sein Gesicht verriet nichts.
»... er meinte, Sie könnten mir etwas über die Aktion in Sassnitz Mitte
der Achtziger erzählen.«
»Dr. Matthes.« Merzig lächelte und klopfte die Taschen seiner zu weiten,
ausgewaschenen Cordhose ab, bis er ein Briefchen mit Streichhölzern gefunden
hatte. »Wie geht es ihm?«
»So nahe stehen wir uns nicht.«
»Er leitet doch dieses Sanatorium, nicht wahr? Wussten Sie, dass das
früher mal eine Nervenheilanstalt war? Lauter Verrückte. Ausgerechnet da oben,
wo ihnen ständig die Fähren nach Schweden vor der Nase herumgondelten. Da wäre
ich auch irre geworden.«
»Ein Sanatorium?«, fragte Kaiserley.
Er setzte sich. Dabei berührte er Judiths Knie. Es war wie ein winziger,
elektrischer Schlag. Sie veränderte ihre Sitzposition, um ihm nicht zu nahe zu
kommen.
»Ist das wichtig?«, fragte sie. »Es geht hier nicht um Dr. Matthes,
sondern um Sie. Wer oder was waren Sie denn?«
»Ich war Leiter der Diensteinheit Spionageabwehr.«
»Und haben Haftbefehle unterschrieben.«
»Ja, das habe ich.«
Judith atmete scharf ein. »Auch die für Irene Sonnenberg und ihren Mann?«
»Das ist möglich.«
»Und ... Christina Sonnenberg?«
In Merzigs Augen blitzte etwas auf. Vielleicht war es auch nur der
Widerschein des Streichholzes, das er gerade an den Tabak hielt.
»Nein. Kinder wurden nicht festgenommen.«
»Die kamen in Heime «, sagte Judith. Sie hoffte, Merzig würde ihr nicht
ansehen können, wie sehr seine zur Schau getragene Ruhe sie verletzte. »Ins
Gagarin zum Beispiel.«
Merzig schüttelte das Streichholz, bis es erlosch. Eine Rauchwolke
schwebte durch den Raum. Sie duftete nach Holz und Erde.
»Eine vorbildliche Einrichtung. Wirklich. Ganz anders als diese
Jugendhöfe. Mit sehr engagierten Erziehern, soweit ich mich erinnere.«
»Ich will wissen, was in dieser Nacht geschah. Ich habe mein Versprechen
gehalten. Jetzt sind Sie an der Reihe.«
»Judith Kepler?«, fragte Merzig.
Judith nickte.
»Sie wollen wirklich wissen, wie Ihre Eltern starben?«
»Ja«, flüsterte Judith.
Sie tastete nach ihrer Tasche und fühlte das kalte, harte Eisen.
*
Berlin-Lichtenberg,
Ministerium für Staatssicherheit, Normannen- Ecke Gotlindestrasse. Haus 2, Hauptabteilung II, Spionageabwehr, 1985
Es war ein warmer Dienstag im August, und die Luft strömte durch die weit
geöffneten Fenster und trug den Geruch von geschnittenem Heu und schmelzendem
Asphalt mit sich. Generalleutnant Horst Merzig verließ seinen Schreibtisch und
schaute hinüber zum Feldherrenhügel, wie das Speisehaus des Ministeriums genannt
wurde. Es war kurz nach zwölf, und auf dem Wochenplan standen an diesem Tag
Quetschkartoffeln, Pannfisch und Salzgurken. Nicht das, wozu ihm der
Betriebsarzt nach der letzten Untersuchung geraten hatte. Mehr Gemüse, weniger
Fett hatte der gesagt. Mitte fünfzig, da begannen die Zipperlein. Merzig
wusste, dass er mindestens zehn Kilo zu viel mit sich herumschleppte. Aber seit
seine Frau nicht mehr lebte, aß er nur noch in der Kantine. Der Schichtkohl war
einzigartig.
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