Herrmann, Elisabeth
Und da im MfS fast rund um die Uhr gearbeitet wurde, war auch das
Speisehaus von frühmorgens bis spätabends geöffnet. Er aß mehr, als er brauchte
und sollte. Ab und zu hatte er es mit FdH versucht, aber die Damen an der
Essensausgabe durchschauten seine halbherzigen Versuche und wuchteten ihm dann
gerne noch eine zweite Bulette mit in Butter gebratenen Zwiebeln auf den
Teller. Es war eine Angewohnheit aus Kindertagen, dass Teller leer gegessen
wurden. Irgendwann fühlte Merzig sich nur noch wohl, wenn er satt war.
An diesem Vormittag jedoch war es nicht sein knurrender Magen, der ihn
ungeduldig auf die Mittagspause warten ließ. Es waren die beunruhigenden
Neuigkeiten, die er soeben erfahren hatte.
In seine Zuständigkeit fiel die Gewährleistung der inneren Sicherheit im
MfS. Dabei hatte man eher das Wohl der haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter
und deren Familien im Sinne als eine tatsächliche Gefahr, die innerhalb der
eigenen Reihen heraufziehen könnte. Und so waren er und Oberst Kauperth, einer
seiner engsten und langjährigsten Mitarbeiter, unvorbereitet und ahnungslos
zur routinemäßigen Lagebesprechung in Haus 1 hinübergegangen, ohne zu wissen,
was sie dort erwartete.
Ein kleiner Kreis war im Konferenzraum im fünften Stock zusammengekommen,
und im Mittelpunkt hatten die Lageberichte aus Westdeutschland gestanden, die
ihnen pünktlich und zuverlässig immer am Wochenanfang von ihrer Quelle in Bonn
zugespielt wurden. Es war ein befriedigendes Gefühl, nicht nur den gleichen
Kenntnisstand wie der Bundeskanzler der BRD und seine engsten Minister zu
haben, sondern ihnen auch gleichzeitig einen Schritt voraus zu sein.
An diesem Morgen um 8.15 Uhr, genau dreißig Minuten nachdem ihm von Genossin Major Dresgow das
Frühstück in seinen privaten Räumen serviert worden war, saß der Minister für
Staatssicherheit nicht wie gewohnt selbstzufrieden am Kopfende des
spiegelblanken Tisches. Seine Schultern waren noch höher gezogen als sonst,
das runde Gesicht wie versteinert. Die Augen schmale Schlitze, der Mund ein
Strich, so wartete er, der inoffiziell mächtigste Mann der Deutschen
Demokratischen Republik und notorische Frühaufsteher, bis alle in ihren Kunstledersesseln
Platz genommen hatten. Merzig saß Fröde gegenüber, dem Leiter der Abteilung
XII, der seinem Blick auswich. Er starrte hinunter auf die Tischplatte, als
hätte man ihn gerade mit einem Handkantenschlag außer Gefecht gesetzt.
Markus »Mischa« Wolf, vom Spiegel enttarnter Chef der Auslandsaufklärung, fehlte. Angeblich machte ihm sein
Gesundheitszustand zu schaffen. Die Hydra der Gerüchte flüsterte mit ihren
geschwätzigen Mündern von privaten Problemen, und gegen sie wäre in einer
Behörde wie dieser noch nicht einmal Herkules angekommen. Alle anderen waren
da.
»Merzig«, schnarrte der Minister statt eines Grußes. Die direkte
Ansprache ohne Dienstgrad war eine Marotte von ihm. An diesem Tag aber klang
sie noch eine Nuance kühler. »Alles im Griff?«
»Jawohl, Herr Minister.«
»Das glaube ich nicht. Oder wie erklären Sie sich, dass die gesamte
Kartei unseres Auslandsnachrichtendienstes nächste Woche in die Hände des
Feindes fällt?«
Merzig schluckte. Glaubte, er hätte sich verhört. Er sah zu Fröde, der
immer noch dasaß, als hinge sein Leben an einem seidenen Faden. In diesem
Moment hätte wohl jeder gerne private Probleme gehabt. Nur, um nicht hier vor
aller Augen einen Kopf kürzer gemacht zu werden.
»Ich verstehe nicht.«
Der Minister hieb mit der Faust auf den Tisch, alle zuckten zusammen. In
diesem Raum saßen die zwölf Hauptabteilungsleiter und ihre Vertreter,
Genossen, vor denen jeder im Lande strammstand. Aber wenn dieser kleine Mann,
der Knetfiguren von Kindergartengruppen sammelte, mit der Faust auf den Tisch
schlug, war es vorbei mit der eigenen Autorität. Fröde war totenbleich. Und
unter seinem, Merzigs, Stuhl hatte sich soeben ein Abgrund aufgetan.
»Entschuldigen Sie bitte«, unterbrach Kaiserley Merzigs Erinnerungen.
»Die Informationen kamen aus Bonn?«
Merzig zuckte mit den Schultern. »Die Frühlage am Dienstag war immer dem
Bericht des Geheimdienstkoordinators an den Bundeskanzler der BRD gewidmet. Ich
weiß nicht, durch wie viele Hände diese Information zuvor gegangen ist. Sie war
auf jeden Fall die Essenz dessen, was BND, MAD und Verfassungsschutz für diese
Woche zusammengetragen hatten.«
»Warum denn nicht Bonn?«, fragte Judith ärgerlich. »Das war ja schließlich
mal die
Weitere Kostenlose Bücher