Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herrmann, Elisabeth

Herrmann, Elisabeth

Titel: Herrmann, Elisabeth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeugin der Toten
Vom Netzwerk:
an Urlaubsbilder vom Plattensee,
aber nicht an Mikrofilme! Hat sie die gemacht? Hat sie das?«
    »Judith, sei jetzt bitte nicht naiv. Was dachtest du denn, woher die
Rosenholz-Dateien kommen? Auf einer Parkbank gefunden? Denkst du, der
Bundesnachrichtendienst fälscht schwedische Pässe, um aus reiner Güte und
Barmherzigkeit eine sich liebende Familie aus der DDR zu schleusen?«
    »Nachempfinden«, korrigierte Judith ihn mit beißendem Spott. »So heißt das
doch, oder? Und wag es ja nicht, mich noch einmal naiv zu nennen.«
    »Alle hätten ihren Vorteil gehabt. Deine Eltern, die ein neues Leben
anfangen wollten, die CIA, die genauso infiltriert war wie der
Bundesnachrichtendienst, und nicht zuletzt der BND, der mit einem Schlag einen
unfassbaren Triumph errungen hätte. Eine Win-win-Situation.«
    Judith griff in ihre Tasche. Ihre Finger berührten die Pistole, die sie
aus Dombrowskis Schreibtischschublade genommen hatte, als sie den Kommissar um
zehn Minuten Zeit zum Umziehen gebeten hatte. Das kühle Metall beruhigte sie.
Eine Win-win-Situation. Wusste Kaiserley eigentlich, was seine Worte anrichteten?
Ihre Finger glitten weiter und fanden das Tabakpäckchen. Sie holte es heraus
und stellte die Tasche neben sich. Kaiserleys Handy vibrierte wieder. Er
ignorierte es.
    »Aber es blieben nur Verlierer auf dem Schlachtfeld zurück«, sagte sie und
versuchte, ihre Stimme so ruhig wie möglich klingen zu lassen. »Meine Eltern
sind tot. Ich kam ins Heim. Zwei andere sind dafür nach Schweden gereist. Und
mich hat man irgendwie vergessen, was?«
    »Ihnen hat Stanz das Leben gerettet.«
    »Stanz? Mir?«, fragte Judith und unterbrach für eine Sekunde das Drehen
ihrer Zigarette.
    »Von Stanz stammt der Bericht über die Nacht in Sassnitz. Und die Rolle,
die eine ganz bestimmte Frau dabei gespielt hat.«
    »Welche Frau?«, fragte Judith. »Marianne Kepler?«
    Merzig schüttelte lächelnd den Kopf. Er saß auf der Couch, hockte auf
seinem Herrschaftswissen und ließ sie zappeln. Der Impuls, die Waffe zu ziehen
und auf Merzig zu zielen, wurde beinahe übermächtig. Plötzlich legte Kaiserley
ihr die Hand aufs Knie. Er zog sie sofort wieder weg, aber Judith hatte die
Geste verstanden: Bleib ruhig, wollte er ihr sagen. Bleib bitte ganz, ganz
ruhig.
    »Ich kenne nur den Decknamen, den sie damals benutzt hat«, sagte Merzig.
»Und der wäre?«
    »Rose«, antwortete Merzig. »Wie die Blume.«
     
    *
     
    Sassnitz,
Bahnhof. Gleisanlage für den Transitverkehr nach Schweden, 1985
     
    Oberst Hubert Stanz, Anfang vierzig, ein hochgewachsener, schlanker Mann
mit heller Haut und vielen Sommersprossen, stand im Wartesaal des Bahnhofs und
betrachtete den internationalen Schnellzug Berlin-Malmö, der seit einer halben
Stunde grell vom Flutlicht beleuchtet gerade ein drittes Mal von der
Spürhundestaffel abgesucht wurde. Stanz war nervös. Er hatte dieses Gefühl zum
letzten Mal bei seiner Abschlussprüfung an der JHS gehabt, und die war schon
ein paar Jahre her. Sein Schwerpunkt hatte bisher auf der Leitung und
Durchführung von Verhören gelegen, dies war sein erster Einsatz an der »frischen
Luft«. Gerade durfte er feststellen, dass zwischen Theorie und Praxis noch
Platz für viel Erkenntnis war. Die beispielsweise, dass man eine Aktion
perfekt planen konnte. Der Plan selbst aber deswegen noch lange nicht perfekt
umgesetzt wurde.
    Es war Theater, das sie hier spielten, und die PKE hatte den Befehl
mitzuspielen. Alle anderen waren auch auf ihren Posten. Als das Telefon in der
geisterhaft leeren Bahnhofshalle klingelte, zuckte er zusammen. In zwei
Schritten war er am Apparat und hob den Hörer ab.
    »Dreißig Minuten«, zischte sie. »Was läuft hier schief?«
    »Ich weiß es nicht.« Er sah zum Zug und wusste, dass irgendwo in den
Transitabteilen Lindner saß. Die Ratte. Der Überläufer. Gemeinsam mit einem
hochkarätigen BND-Agenten. Und sie kamen nicht an ihn heran. Zwei Waggons
weiter im Triebwagen nach Bergen saßen Sonnenberg und ihre Tochter, genau beobachtet
vom Schaffner. Die Brut der Ratte. Das Ungeziefer. Sie rührten sich nicht. Und
je länger sie warteten, desto wahrscheinlicher war es, dass die ganze Aktion
im Sande verlief. »Vielleicht haben sie ein Zeichen ausgemacht.«

»Gelbe Bänder?« Roses Stimme klang verächtlich. »Wir können den Zug nicht
ewig hier stehen lassen. Sag deinen Leuten, sie sollen stürmen.«
    Stanz schüttelte den Kopf, auch wenn sie ihn nicht sehen konnte, weil der
Zug zwischen ihnen stand.

Weitere Kostenlose Bücher